Die Notwendigkeit der Schönheit im Angesicht des Terrors

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Im Westen sind wir uns einig. Der Terror ist das abgrundtief Böse. Der Terror ist an Hässlichkeit nicht zu überbieten. Es liegt ihm daran, unsere Werte, unseren Lebensstil und unsere Freiheit zu zerbomben und grundlegend zu vernichten. Das Licht der Aufklärung ist auf unserer Seite, während Gesellschaften, die Terrorismus hervorbringen in voraufklärerischen, dunklen Zeiten leben.
Doch die Situation ist komplexer. Die Dichotomie von Gut und Böse, von aufgeklärt und unaufgeklärt, von hässlich und schön ist höchst fragil. Vor allem ein Gedanke drängt sich auf: Terror als unmittelbarer, intensiver Moment der impulsiven und nicht-diskursiven Realität ist nicht a priori hässlich. Zwar ganz sicher verdammenswert. Ganz sicher unmenschlich und grauenvoll. Aber mit ziemlich großer Sicherheit in ästhetischer Hinsicht nicht hässlich.
Es war niemand geringerer als Karlheinz Stockhausen, der die Anschläge von 09/11 in New York als „das größte Kunstwerk, das es überhaupt gibt für den ganzen Kosmos“  bezeichnet hat. Ein Hohn für die Opfer. Eine moralisch bedenkliche und verwerfliche Aussage. In einem künstlerischen und ästhetischen Kontext ist seine Aussage aber legitim und absolut verständlich.
Man war damals bemüht seine Aussage dahingehend zu deuten, dass die Bilder um die Welt gingen und sie zweifelsfrei Film und Kunst in ihrer Inszenierung und ihrer grauenvoll Art beeinflusst haben.
Stockhausen meinte es meiner Meinung nach anders. Es ging ihm nicht um die Bilder, nicht um die mediale Inszenierung. Im Gegenteil. Es ging ihm um eine Zäsur, einen radikalen Einschnitt in die bis dahin bestehende, damals schon äußerst fragwürdige Weltordnung.
Es ging ihm um den Einbruch der Realität, des nicht-diskursiven und unmittelbaren Realen, der mediale und symbolische Konstruktionen hinfällig macht. Angesichts eines solchen „Kunstwerkes“, einer solchen „Performance“ kann man eigentlich nur noch schweigen. Das Ereignis selbst ist so grauenvoll, so unsagbar real und grausam, dass unsere Einschätzungen, Begriffe und unsere mediale Vermittlungen eigentlich versagen müssten. Wir stehen sprachlos vor diesem „Kunstwerk“, vor diesem singulären Ereignis.
Nun wissen wir, dass der damalige unsägliche Terrorakt in New York nicht der letzte gewesen ist. Weitere grauenvolle Akte folgten. Wir werden nicht müde, diese Anschläge als „aufs Schärfste zu verurteilen“. Wir werden nicht müde zu betonen, dass diese Akte barbarisch sind und wir im Westen jetzt noch mehr und stärker zusammenstehen müssen, um diesem Terror Einhalt zu gebieten. All das mag notwendig sein. Falsch liegen wir aber womöglich in der Vermutung, dass wir auf der „richtigen“ Seite stehen und dass Freiheit und Schönheit sich Seite an Seite mit den westlichen Werten stellen.
Ohne die unhaltbare Behauptung aufstellen zu wollen, dass die Kultur der Verschleierung in manchem Land, das Terror hervorbringt, schön sein kann muss nämlich zumindest festgehalten werden, dass unsere völlig ausgeleuchtete, bis aufs Äußerste aufgeklärte und rationale Kultur im „Westen“ hässlich sein kann. Ohne Terroristen zu verteidigen kann man es auf abstrakte Weise verstehen, woher der Hass auf „westliche“ Werte kommen könnte.
Viele Länder des Terrors mögen voraufklärerische, mittelalterliche Gesellschaften sein, unsere Welt im Westen muss hingegen mit einer pervertierten Aufklärung leben, in der nichts mehr heilig, nichts mehr geheimnisvoll, sondern alles von Grund auf erklärbar sein muss. Zum Äquivalent der westlichen Aufklärung ist mittlerweile die Pornographie geworden. Alles ist sichtbar, nichts verhüllt, das Geheimnis und die Mystik der Dinge vollständige zerstört.
Die Situation des Eindringens des Terrors in den „Westen“ wurde schon mannigfaltig aus politischer, sozialer und gesellschaftlicher Sicht  beschrieben. Aus der Sicht der Schönheit ist es meiner Meinung nach noch kaum oder gar nicht passiert.
Wir verteidigen im „Westen“ etwas, von dem wir glauben, dass es schön und kostbar ist. Wir werden angegriffen von Menschen, denen es daran liegt, diese Schönheit und diese kostbaren Werte zu zerstören. Sie wollen das Böse und das Hässliche einschleusen.
Der Kern der Sache ist aber ein anderer: Allzu viel Schönheit ist nicht mehr in unserer Gesellschaft zu finden. Wir haben sie gründlich ausgetrieben und bauen mittlerweile nur noch Konstruktionen und Lügen davon auf, was schön und kostbar sein könnte. Unsere Freiheit ist mehr Freiheit des Konsums, unser freizügiger Lebensstil gleicht sich mehr und mehr Kategorien der Hässlichkeit an. Schönheit heißt auch, metaphorisch gesehen, Verschleierung. Schönheit heißt Komplexität. Schönheit heißt auch Geheimnis. Schönheit heißt, nicht immer dem Evidenten und Offensichtlichen den Vorzug zu geben.
Was also passiert gerade in Europa? Es ist schwer zu beschreiben und kaum auf den Punkt zu bringen. Auf keinen Fall lässt sich aber sagen, dass hier das Hässliche die Schönheit unserer Gesellschaft in Frage stellen und vernichten möchte. Man kann auch zweifellos nicht so weit gehen wie Stockhausen und so manchen Terroranschlag als „Kunstwerk“ bezeichnen.
Deutlich ist aber, dass diese Einbrüche des unmittelbar Realen und des Todes uns aufrütteln könnten. Nicht dahingehend, dass wir jetzt noch mehr als zuvor schon leer gewordene Werte verteidigen. Wir könnten uns stattdessen fragen, warum unsere Gesellschaft so hässlich geworden ist.  Wir könnten uns fragen, wie wir die verloren gegangene Schönheit wieder erlangen könnten.
Womöglich könnte es auch sinnvoll sein, sich progressivere Tendenzen in Ländern anzusehen, die wir a priori als terroristische Brutstätten einschätzen. Unter Umständen können wir auch von ihnen lernen, was den Umgang mit Mystik, Verschleierung und Demut betrifft. Es ist denkbar, dass wir dann wieder erkennen können, was uns Westen abhanden gekommen ist. Und uns eine ganz neue Art von Schönheit aufbauen.

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Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.

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