Kein Platz für Ambivalenz

9 Minuten Lesedauer

Sozialkritik funktioniert schon sehr lange besonders gut in Verbindung mit dem Motiv des empfindsamen Außenseiters. In Felix Mitteres „Märzengrund“ (den es bei Stumm übrigens wirklich gibt – genau genommen ist das ganze Stück voll von Anspielungen auf die Regionalgeographie) heißt der Außenseiter Elias. Ein Prophet also – so viel intertextuellen Scharfsinn darf man dem Mitterer schon zutrauen – und die sind bekanntlich in ihrer eigenen Heimat niemals anerkannt. Diese Heimat ist eine schmerzlich vertraute, und eine, in der man auch lieber gar nicht anerkannt sein möchte; über die primitive, reaktionäre Dorfkultur im Tal (ganz gleich, in welchem) muss an dieser Stelle nicht viel gesagt werden.

Ein altes Motiv in Tiroler Tracht

Der Außenseiter ist, wie sollte es anders sein, natürlich ausgesprochen begabt und intelligent, man darf sich allerhand von ihm erwarten, zumindest aber, dass er erfolgreich den Hof des Vaters übernimmt. Dann kommt zwangsläufig der Bruch, die Krise, die Psychiatrie, das Unverständnis – und Rettung gibt es für Elias nur auf der Alm, am „Märzengrund“ eben. Er bricht also mit seinem bisherigen Leben und zieht sich völlig zurück in eine Welt, in der es außer dem Gebirgsbach, den Rehen und dem selbstgemachten Graukäse nur mehr wenig gibt.
Es kommen immer wieder kleine Anspielungen auf Robinson Crusoe und Nils Holgersson, aber die sind eigentlich ein wenig verfehlt. Denn am Ende kann es so jemanden wie Elias erst in einer Gesellschaft geben, die mit den Aporien der Moderne, mit der Technisierung, der „Entfremdung“ konfrontiert worden ist und in der dann Vereinzelte mit der radikalen Rückkehr zur Natur ernst machen.
Das ist eine verständliche Sehnsucht, ein scharfsinnig beobachtetes Phänomen, und ein gutes Motiv – aber erfunden hat es eindeutig nicht Felix Mitterer. Den jungen Aussteiger hat in der bekannten Form wohl Jack London in die Literatur eingeführt, und das vor über 100 Jahren. Wunderschön und mit deutlich mehr Anspruch und Feingefühl verarbeitet hat diesen speziellen Topos Sean Penn in seinem Film „Into the Wild“.
Im Übrigen gibt es in „Märzengrund“ auch Episoden, die in ähnlicher Form schon über Franz von Assisi erzählt wurden – der plötzliche Bruch, der Vater-Sohn-Konflikt, die gewählte Besitzlosigkeit, die Nähe zu Flora und Fauna. Aber Assoziationen mit religiösen Inhalten sind durchaus beabsichtigt, insofern passt das ganz gut. Denn natürlich muss irgendwo auf halbem Wege auch die Lieblingsmetapher aller Sozialromantiker in den Raum geworfen werden, das bekannte Jesaja-Zitat, von den Wölfen, die bei den Lämmern liegen. Elias, dieser prophetische Geist, ist also nicht nur ein Naturbursch, sondern ein aufrechter Pazifist.

Der Idiot und der Patriot

Natürlich zerfetzt sich darum das ganze Dorf auf breitem Zillertalerisch das Maul über ihn, die Eltern leiden, der selbst setzt sich mit Hingabe gegen die Jagd und für das Wohlergehen der Wildtiere ein.
Er ist also nicht nur ein Aussteiger, sondern ein echter „Idiot“, einer, der sich in der Gesellschaft nicht mehr zwanglos bewegen  kann und ihr auf diese Weise einen Spiegel vorhält; aber auch den hat, man glaubt es kaum, nicht Felix Mitterer erfunden. Es ist Dostojewksijs „Idiot“, der als erster sagt: „Nur eines ist richtig, ich bin tatsächlich nicht gern unter Erwachsenen, unter Großen, unter Menschen – das ist mir schon längst aufgefallen -, ich bin es nicht gern, weil ich es nicht kann“, und der sich deshalb in die Gesellschaft der Natur und der Kinder zurückzieht.
Gewiss ist die formalästhetische Umsetzung des Motivs eine Neue (schon allein der Dialekt tut sein Übriges), und die hat tatsächlich auch einige Stärken. Dafür, dass das Projekt mit einem Laienensemble umgesetzt wurde, wird durchaus passabel, wenn auch etwas stockend gespielt. Die Qualitäten von Hauptdarsteller Heinz Tipotsch zeigen sich nicht zuletzt in den Videoeinblenden, mit denen das Stück intermedial aufgemotzt wird und die sowohl für sich genommen sehr schön als auch im Theaterstadel sehr stimmig wirken.
Wirklich hervorragend ist außerdem die musikalische Untermalung von Christoph Stock & Co., die mit einer äußerst düsteren Interpretation des klassischen Ziehorgel-/Gitarrenthemas für die richtige Atmosphäre sorgen. Fast jedes Inszenierungselement bewegt sich damit zwischen der distanzierten Perspektive auf das dörfliche Tirol und seine Abgründe einerseits, und der devoten Achtung davor andererseits.
Denn hinter der ziemlich treffenden und boshaften Darstellung der Tiroler Landbevölkerung lebt das Stück natürlich auch von einem gerüttelt’ Maß an Heimatliebe – ein kritischer Patriot wollte Mitterer immer schon sein. Und die Heimat liebt ihn auch zurück: Seinen Vorlass hat der Volksdramatiker recht dramatisch schon vor einigen Jahren ans Innsbrucker Brenner-Archiv verkauft – Alois Schöpf rechnete 2014 in seinem Essay „Wenn Dichter nehmen“, in dem er sich höchst polemisch über das österreichische „Vorlass-Kartell“ auslässt, unter anderem mit Mitterer und seinem Opportunismus ab. Das ist durchaus nicht völlig aus der Luft gegriffen.

Können wir zurück zur Natur?

Das eigentliche Problem ist aber ein anderes: Ein Literat kann ruhig ein bisschen unseriös sein, das ist sein ureigenstes Geschäft.
Aber dann soll er es wenigstens originell machen, und mit ästhetischem Anspruch. Die klare Polarität zwischen dem weisen Narren und der abgestumpften, unmenschlichen Gesellschaft, die völlig ohne Ambivalenz auskommt, ist nicht einmal in der Österreichischen Literatur etwas Neues – neu wäre lediglich, wenn auch hierzulande einmal jemand Ernst damit machte, anstatt sich nur immer über unsere unnatürliche Lebensweise die Haare zu raufen. Die Botschaft von „Märzengrund“ ist sehr eindeutig: Die Helden wären die, die sich das trauen. Aber ist das wirklich so? Aussteiger kann es doch immer nur in Relation zu einer Gesellschaft geben, sonst ergibt der Begriff keinen Sinn mehr.
Die wirklich interessante Frage wird nämlich in „Märzengrund“ kaum angerissen: Ob das Aussteigen denn wirklich funktionieren kann. Oder ob es eher so etwas wie einen point of no return gibt, an dem das Leben in der Gesellschaft unerträglich wird, ohne dass wir wirklich zur Natur zurückkehren können und dieser Konflikt uns zunehmend zerreißt. Ich meine, es gibt ihn. Jack London jedenfalls ging elendiglich an seiner Drogensucht zugrunde…

Fazit

Ich würde mit Adorno sagen, das liegt daran, dass wir gar nicht mehr wissen, was diese „Natur“, nach der wir uns sehnen, überhaupt ist. Wir können nicht mehr zurück. Wir können nur jeden Tag die Diskrepanz zwischen dem, wie wir leben und dem, wie wir leben sollten wahrnehmen und aushalten – vielleicht gibt es nämlich doch ein klein wenig richtiges Leben im falschen. Und wenn es einen geeigneten Raum gibt, um das zu reflektieren, dann ist es mit Sicherheit die Kunst.
Die ganz falsche Strategie wäre aber, die Idylle in den Theaterstadl zu verbannen, wo wir sie uns in regelmäßigen Abständen reinziehen können, um dann, gerührt von unserer eigenen Aufgeklärtheit, ins Auto zu steigen und mit dem Wahnsinn weiter zu machen. Genau dazu lädt „Märzengrund“ ein. Genau das ist unser Problem.


 
Die restlichen Vorstellungen von „Märzengrund“ sind fast vollständig ausverkauft. Für den 23. Juli und 7. und 8. August sind hier  noch Karten zu bekommen.


Foto (c) Alexander Halbwirth, stummer schrei

Schreibe einen Kommentar

Your email address will not be published.