God Save the Queen of Avant-Rock

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„Goddamn Europeans! Take me back to beautiful England!“, singt PJ Harvey, völlig d’accord mit dem Großteil ihrer Landsleute. Aber was ist das für ein schönes England? Da wird die Sache schon ein bisschen fishy: „Let me walk through the stinking alley / To the music of drunken beatings / Past the Thames river glistening / Like gold hastily sold for nothing.“


Polly Jean schenkt ein…


Eh schon nicht besonders schön und dann auch noch für praktisch nichts verkauft, das charakterisiert Großbritannien 2017 ziemlich gut.
PJ Harvey, die Queen des Avantgarde-Rock, hat ihrem Land schon 2011 mit der Platte Let England Shake ordentlich von links eingeschenkt. Weil sich dieser selbstironische Todesengel aus Dorset im 3-Jahres-Rhythmus neu erfindet, hat Harvey auch irgendwann von der Liebeslyrik auf Politik umschwenken müssen. Und die beherrscht sie ganz hervorragend.
Ein Album lang wettert sie zu düsterem Bass und aufmüpfigem Saxophon über ein schwieriges Land und seine Verherrlichung.
Da geht es um ganz aktuelle Missstände wie Umwelt und Gesundheit und das ewige Militärbündnis mit den USA – da kann PJ Harvey nur zynisch fragen: „What if I take my problems to the United Nations?“
Sie widmet sich aber auch dem historischen England mit seinem ausgeprägten Hang zu Gewalt und seinen Weltmachtallüren. Für einen so unkritischen Blick, wie ihn die zweifachen Retter Europas auf die Weltkriege haben, würde man anderswo vielleicht schon der Gewaltverherrlichung verdächtigt. Junge Londoner dagegen feiern frischfröhlich „Blitz Parties“, in nostalgischer Erinnerung an die guten Zeiten, als man vereint gegen die Deutschen und ihre Luftangriffe stand. Ein besonderes Highlight? Das „D-Day Special“!
Dazu kann PJ Harvey nur sagen: „Death is now, and now, and now.“ Offenbar muss sie ihren patriotischen Landsleuten erstmal ein paar ethische Grundsätze einbläuen und sie mit ihrer hässlichen Geschichte konfrontieren.


… Johnny ruft zur Anarchie…


Das, was sie da so anprangert ist freilich nichts Neues. Denn es ist auch ein guter Zeitpunkt, sich zum 40. Jubiläum God Save the Queen und Anarchy in the U.K. von den Sex Pistols reinzuziehen. Das ist nicht mehr ganz aktuell?
Vielleicht nicht, aber es dokumentiert wohl den Anfang vom Ende: „There is no future / In England’s dreaming“ – jedenfalls keine Zukunft für den kleinen Mann, dem in Bälde Maggie Thatcher den Rest geben wird, während den Upper Classes die Vergangenheit für den nötigen Komfort völlig ausreicht. Es ist nicht zuletzt der kleine Mann, der jetzt für den Brexit gestimmt hat, während sehr viele Künstler und Akademiker mehr oder weniger lautstark ihren Unmut kundtun. Versucht er verzweifelt, etwas zu retten, das schon seit Jahrzehnten nicht mehr existiert, und das für ihn vielleicht gar nie existiert hat?


… und Jimmie steht im Regen


Wenn man Elvis Costello Glauben schenken darf, stand Jimmie – der Prototyp des englischen Arbeiters – nämlich schon 1937 im Regen: „Forgotten man / Indifferent nation / Waiting on a platform at a Lancashire station“ heißt es in Jimmie Standing in the Rain. Costello, ein notorisch kritischer Geist, springt auf seinem vorletzten Album National Ransom vom 20. ins 21. Jahrhundert und von einer Seite des Atlantik auf die andere.
Der Grundtenor: Eine Nation, in der noch 1918 Deserteure erschossen wurden (Großbritannien), kann nicht viel menschlicher sein als eine, in der Schusswaffen im Namen Christi bedient werden (die USA).
Im Westen ist der Hund drin. Man ist in einem kollektiven Tiefschlaf versunken. Das Erdbeben, das PJ Harvey mit Let England Shake in Gang setzen wollte, hat seine Wirkung noch nicht erzielt. Da war das Referendum im Juni vielleicht wirkungsvoller. Zumindest hat es viele Briten dazu bewegt, sich eindeutig zu Europa und dem Rest der Welt zu bekennen – nicht aus vornehmer Distanz, sondern mit echter Leidenschaft, über der sogar die stiff upper lip in Vergessenheit gerät.
Wir können nur hoffen, dass das ausreicht, um über politische und ökonomische Kanäle und Abgründe hinweg den kulturellen Austausch aufrecht zu erhalten.


Ein bisschen mehr Zorn und Liebe


Ein völlig hermetisches England wäre jedenfalls keine besonders gute Sache, für beide Ufer des Ärmelkanals. Dann sind die Zeiten vorbei, wo ein Asaf Avidan mit allem Wahnsinn in der Stimme, den er aufbringen kann, singt: „Take me to England ’cause I’m going slightly mad / Nobody will notice I’m mad in England“. Dann ist die letzte Bastion der schrägen Vögel dieser Welt zu einem Schrein der Skurrilität erstarrt, der keinen mehr zum Lachen reizt. Da hilft es nicht mal mehr, wenn Monty Python’s Always Look on the Bright Side of Life anstimmen.
Let England Shake ist übrigens am Valentinstag erschienen. Kein Nestbeschmutzer, der sein Land nicht auch aus tiefstem Herzen liebt. „To you, England, I cling / Undaunted, never-failing / Love for you, England“, singt PJ Harvey. Ein bisschen mehr von dieser kritischen, zornigen Liebe täte Großbritannien gut. Und nicht nur ihm.


Zum Reinhören



Titelbild: (c) Maria Mochnacz

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