Anja Lechner und Francois Couturier in München: Mit größtmöglicher Freiheit und Sensibilität

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Lange Zeit habe ich keinen direkten emotionalen Zugang zur Musik und zum Spiel von Anja Lechner gefunden. Mit der Einspielung „Moderato cantabile“ zusammen mit Francois Couturier hat sich das grundlegend geändert. Dass Anja Lechner aber eine außergewöhnliche Musikerin ist, wurde mir wiederum spätestens bei einer Einspielung von Werken von Tigran Mansurian bewusst, bei der sich auch eine meiner absoluten Lieblingsmusikerinnen,Patricia Kopatchinskaja, neben Anja Lechner wiederfand.
Das Spiel von Anja Lechner hatte aber beim ersten Hören nichts von der Expressivität und Radikalität von Kopatchinskaja. Ihr klarer Stil, den man manchmal fast schon karg nennen könnte, hat aber einen anderen Vorzug: Anja Lechner nimmt sich Freiheiten heraus, stellt diese aber nicht ostentativ zur Schau. Ihr Ton ist klar, oftmals spielt sie auch ohne Vibrato. Dadurch kommen Melodien deutlich zum Vorschein und sie entwickelt zugleich eine ganz eigene musikalische Stimme, die sich aber oft auch zurückhaltend in den Dienst der Sache, der Melodie und des interpretierten Werkes stellt.
In München sollte sie zusammen mit ihrem musikalischen Partner, Francois Couturier, unter Beweis stellen, wo sich ihre musikalischen Stärken exakt befanden. Und das tat sie auch ganz deutlich und doch mit ihrer dezenten, nachdrücklichen und zurückhaltenden Art, die im richtigen Moment auch expressiv, radikal und  ästhetisch und spielerisch frei werden konnte. Doch der Reihe nach.

Die Allerheiligen-Hofkirche in München von außen vor dem Konzert (Bild: Augustin  Wiedemann)
Die Allerheiligenhofkirche in München von außen vor dem Konzert (Bild: Augustin Wiedemann)

Das Konzert in München fand in der Allerheiligen-Hofkirche der Residenz München statt. Ein Raum, der nicht mehr als Kirche, sondern als Veranstaltungsraum genutzt wird. Keine religiösen Bilder, keine Kreuze und auch sonst keine direkten Zeichen eines religiösen Ortes finden sich hier. Nichts, was von der Musik ablenken könnte. Und doch hat der Raum etwas Spirituelles bewahrt, das sehr gut zur Musik von Anja Lechner und Francois Couturier passte. Schließlich klingt die aktuelle Einspielung, auf der sie sich vor allem den Komponisten George I. Gurdjieff und Federico Mompou widmen, manchmal nach musikalischen Gebeten, zumindest aber nach einem sanften Flehen nach Erlösung.
Melancholie durchzieht diese Kompositionen wie der sprichwörtliche rote Faden. Ich persönlich habe in den letzten Jahren selten eine Aufnahme gehört, bei der Stimmungen und Abläufe derart minutiös geplant sind und doch zugleich überraschend erscheinen. Ich kenne kaum eine Aufnahme, bei der so sehr auf die Übergänge, die Stimmungen und die Brüche geachtet wurde. Alles ergibt eine großes Ganzes, die Vielfalt führt letztlich zur Einheit und strebt hin zur Homogenität.
Freiheit, Melodie, Improvisation, Werktreue: Bei diesem Duo ist alles möglich…
Die berückenden Melodien, die man nach mehrmaligem Hören sogar nachsummen kann, sind dabei die entscheidende Grundlage, an denen sich die beiden Musiker orientieren. Das Violoncello von Anja Lechner übernimmt bei all den Kompositionen Aspekte, die auch von einer Stimme getragen und interpretiert werden könnten. Das Violoncello „singt“, interpretiert, legt Melodien aus und nimmt sich auch die Freiheiten die notwendig sind, um die Kompositionen ins Heute zu holen.
Blick von oben auf das Kirchenschiff vor dem Konzert (Bild: Augustin Wiedemann)
Blick von oben auf das Kirchenschiff vor dem Konzert (Bild: Augustin Wiedemann)

Genau das war nämlich das Beeindruckenden, das sich beim Konzert in München in der Allerheiligen-Hofkirche immer wieder ereignet: Es wird deutlich, dass nicht die Reproduktion der fantastischen Aufnahme im Vordergrund steht, sondern diese Aufnahmen wiederum zu einem Sprungbrett werden, die hin zur interpretatorischen Freiheit und auch hin zur Improvisation führen.
Im gleichen Maße wie die Kompositionen von Mompou und Gurdjieff Ausgangspunkte für Interpretationen im Studio während der Aufnahme waren, sind die Aufnahmen offenbar wiederum Möglichkeitsräume, mit denen Francois Couturier und Anja Lechner auf kongeniale Weise miteinander kommunizierend neue Versionen erschaffen, die nicht in sich abgeschlossen sind, sondern atmen, lebendig sind, weiter gesponnen werden können. Ganz so als könnten sie wiederum Fragmente, die zum Teil im Augenblick entstanden sind, beim nächsten Konzert aufgreifen und abermals neu ausformulieren und ihnen dann eine Stringenz und Kohärenz geben, die sie wirkt, als wäre sie vom Komponisten genau so gemeint gewesen.
Anja Lechner und Francois Couturier während ihres Konzertes in München (Bild: Lamp)
Anja Lechner und Francois Couturier während ihres Konzertes in München (Bild: Lamp)

Vor dem Konzert erzählte mir Anja Lechner davon, dass sie einen Musiker ganz besonders verehrt, dessen Aufnahmen des „Wohltemperierten Klaviers“ mich immer wieder so begeistern, dass ich zu Tränen gerührt bin, obwohl er ganz bewusst nicht auf den romantisierten und emotional zwingenden Bach setzt: András Schiff. Er spielt J. S. Bach trocken, klar, transparent. „Und mit großer Freiheit“ fügt Anja Lechner hinzu, als ich ihr meinen Höreindruck seiner Einspielung schilderte. Es scheint fast so, als ob sie sich an seinem Zugang ein Vorbild genommen hätte, zumal das genau so auch für sie gelten könnte, wenn man sich ihren musikalischen Umgang mit dem Ausgangsmaterial anhört.
Es ist definitiv so, dass sie zu den Wurzeln der Stücke zurückgeht und einzelne Stimmen, Motive und Tendenzen offen legt, ganz klar ausformuliert. Klarer als es die meisten Musiker überhaupt im Stande sind. Kein übertriebener Pathos lenkt von den Melodien und von den Kompositionen ab. In dieser Hinsicht ist Anja Lechner eine zurückhaltende, perfekte und detailversessene Interpretin der Intention des Komponisten. Ihre Kenntnisse der Spieltechniken und Zugänge der verschiedenen Epochen lässt sie außerdem adäquat reagieren.
Nach dem Konzert: tosender Applaus und Begeisterung (Bild: Augustin Wiedemann)
Nach dem Konzert: tosender Applaus und Begeisterung (Bild: Augustin Wiedemann)

Ganz so, als wäre sie nur ein „Medium“, eine Erfüllungsgehilfin des Werkes und der Komposition, das selbst zu Wort kommen will. Dennoch nimmt sie sich die Freiheiten, die eine Interpretation im Heute braucht, damit sie lebendig wird, damit sie wieder atmet und nicht unter dem ganzen Ballast vorangegangener Interpretationen und Auslegungen zu ersticken droht. Die Stücke wirken unter den Händen von Anja Lechner und Francois Couturier so, als würden sie gerade jetzt im Moment erst auf zum Teil improvisierende und intuitive Weise entstehen.
Sie spielten dabei die Kompositionen des Abends mit zwei sich auf den ersten Blick widersprechenden Haltungen: Mit einer Sensibilität gegenüber den Ausgangswerken, die feinfühliger und akribischer nicht sein könnte. Und zugleich mit einer Haltung der größtmöglichen Freiheit, die aber niemals respektlos oder gar zur Selbstdarstellung neigte.
Das Konzert in München war jedenfalls ganz und gar außergewöhnlich. So außergewöhnlich, dass die einzelnen Aspekte und Details nicht beschrieben, sondern eben im besten Fall gehört werden müssen. Da es offenbar eine Radio-Aufzeichnung gab bin ich zuversichtlich, dass sich das Konzert bald nachhören lässt. Bis dahin könnte dieser Texte eine kleine Anleitung sein, sich mit dem musikalischen Schaffen von Anja Lechner zu beschäftigen. Ich möchte euch ihre Musik ans Herz legen. Nachdrücklich. Sie berührt, obwohl sie zuerst ein wenig kühl und distanziert wirkt. Dafür klingt  ihre Spielweise und ihr musikalischer Ton dafür umso länger nach.Und lässt euch nicht mehr los.

Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.

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