Plattenzeit #79: Blur – 13

4 Minuten Lesedauer

Einschneidend


Tatsächlich einschneidende Erlebnisse vergisst man nicht. Es war der Oktober 2000. Gerade eben war „Kid A“ von Radiohead erschienen. Bei einer nächtlichen Fahrt auf der Autobahn hörte ich zum ersten Mal den Einstiegs-Track „Everything In Its Right Place“. Die Gitarren waren verschwunden, die Band hatte sich quasi neu erfunden. Dennoch klang das Lied wie eine verdichtete Form dessen, was Radiohead ausmacht. Wenige Woche später stand „Kid A“ auf Platz eins der USA-Album-Charts. Es war ihr erstes Album, das dort überhaupt in die Top 20 gekommen war. Eigentlich paradox, denn man hatte sowohl auf Video-Clips als auch auf Interviews verzichtet. Eine Band verweigerte sich, sowohl musikalisch als auch in Sachen Marketing, und feierte einen der größten Erfolge ihrer Bandgeschichte.
Im Jahr zuvor, also 1999, veröffentlichten Blur das Album „13“. In mehrfacher Hinsicht ist es plausibel dieses im Kontext der großartigsten „Verweigerungsalben“ der Popgeschichte zu verorten und „13“ neben „Kid A“ zu stellen.
Zwei Jahren zuvor hatten Blur in kommerzieller Hinsicht fast alles erreicht. Mit den Songs „Beetlebum“ und vor allem mit „Song 2“ hatte man die Charts gestürmt. Letzterer ist auch im Heute noch ein beliebter Party-Kracher. „13“ brach hörbar und bewusst mit den Erwartungshaltungen der Blur-Möger, die sich vor allem auf diese Songs als Blur-Sound bezogen.
Nun ist „13“ in Sachen Bruch mit der eigenen Sound-Ästhetik weniger radikal als „Kid A“, aber nicht minder interessant. Der Einstieg mit „Tender“ ist versöhnlich. Mit dem Gospel-Chor legt der Track aber absichtlich eine falsche Fährte. „13“ ist kein gefälliges Album prall gefüllt mit konzisen Indie-Pop-Brechern und potentiellen Hits. Es ist ein erratisches Album, gerade weil es nicht vollständig mit den bisher angestammten Mittel der Klang- und Sounderzeugung der Band bricht. Statt den Bruch strebt „13“ die Intensivierung und zum Teil auch Pervertierung an. Der Gitarrist der Band, Graham Coxon, darf seine flirrende Gitarren-Sounds auspacken, ohne auf Hörbarkeit für eine breite Masse schiele zu müssen.
Das Album ist ein einziger Fluss. Ausformulierte Lieder gehen über in seltsame, fragmentarisch wirkende Songs. Einiges hat noch Hit-Potential, wenngleich dieses Potential nur allzu oft durch Sounds konterkariert wird, mit denen Radiomacher wenig Freude hätten. Die Stimmung wirkt somnambul. Ähnlich wie Radiohead mit „Kid A“ brechen sie zwar in gewisser Weise mit ihrem bisherigen Schaffen, verdichten und verdeutlichen ihre Identität aber dadurch nur noch.
Dafür muss man zurück zu den Dingen kommen. „Blur“ bedeutet so viel wie „verwischen“ oder „etwas verschwommen machen“. Das scheint auch der künstlerische Anspruch hinter „13“ zu sein. Am besten genießt man die Platte in einer Art Dämmerzustand. Dann stellt sich nicht mehr die Frage nach möglichen „Hits“, nach schrägen Sounds, nach Fragment oder Ganzheit. Alles ist gleichberechtigt, alles hat auf „13“ seinen Platz. Alles wirkt gelöst und zugleich absolut nicht beliebig.


Fazit


„13“ ist ein unfassbar gutes Album. Unter Kopfhörern entfaltet es sein enormes Potential was Sounds und kleine Spielereien betrifft. Es ist ein Album voller Schichten. Abwegiges trifft auf Naheliegendes, Kommerzielles auf Unverkäufliches. In dieser Hinsicht ist „13“ eines der komplettesten und besten Alben der populären Musikgeschichte überhaupt.


 Zum Reinhören




Titelbild: (c) 敏行 王, flickr.com

Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.

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