Ihr habt uns unsere Freiheit gekostet!

7 Minuten Lesedauer

Vor vier Wochen drehte sich meine Kolumne schon einmal rund um eine SMS. Das Thema lässt mich irgendwie nicht los. Auch diesmal beginnt alles mit einer SMS. Der Inhalt spielt dabei allerdings keine vordergründige Rolle. Viel mehr geht es um mein Gefühl, als ich die SMS erhalten hatte. Oder besser gesagt, um mein Gefühl, als ich die SMS erhalten, aber nicht geöffnet habe. Wieso das unbedeutend klingt, aber dennoch weltbewegende Ausmaße und Folgen hat? Einfach weiterlesen.


Ab hier geht es wirklich los


Beginnen wir von vorne. Ich sitze an meinem Schreibtisch und tüftle an einem Text. Mein Handy liegt, wie immer auf lautlos geschalten, neben mir, unweit der Maus, als es plötzlich vibriert. Früher, am Höhepunkt meiner Pubertät, als Handys noch 3210 hießen und Snake das Pausenhofgespräch schlechthin war, hätte ich in diesem Moment vor Freude einen Luftsprung gemacht. Eine SMS. Eine Kurznachricht von jemandem der an mich denkt und etwas von mir will, das kann nur etwas Gutes bedeuten. Vielleicht ist es ja ein Mädchen das sich zum Kaffee verabreden will oder ein Kollege der Bock auf Fußball hat?
Diesmal mache ich keine Luftsprünge, sondern zucke innerlich zusammen. Ich kenne nur drei Personen die noch SMS schreiben. Eine davon ist mein Vater und einer der anderen beiden, bin ich eine dringende Antwort schuldig. Zögerlich greife ich in Richtung Handy. Bloß keine voreilige Bewegung. Ein falscher Handgriff und mein Gegenüber sieht, dass ich es gesehen habe – nämlich seine Nachricht. Ich klappe die Schutzhülle zur Seite, das Display leuchtet auf und mit ihm die erdrückende Wahrheit, die unaussprechlichen Worte: „Sie haben eine Nachricht; von …“
Mist – denke ich.  Jetzt ist es so weit. Ich muss eine Entscheidung treffen. Soll ich die Nachricht öffnen und damit riskieren, dass mein Gegenüber weiß, dass ich sie gelesen habe? Damit wäre ich gezwungen zu antworten und müsste eine unangenehme Konversation, der ich seit Wochen aus dem Weg gehe, fortsetzen. Eine knappe Stunde gelingt es mir das kleine blaue, blinkende Licht, am Kopfende meines Handys, das mir sagt, dass ich eine Nachricht erhalten habe, zu ignorieren. Das Blinken wird immer lauter, zumindest kommt es mir so vor. Immer penetranter, heller und lauter wird es. Es schreit mich förmlich an: „Hey du hast hier eine Nachricht. Schau sie dir gefälligst an. Lass das rumtexten. Lies die Nachricht und beantworte sie! Nur asoziale Menschen ignorieren ihre SMS.“
Kurz bevor das Blinken unerträglich wird und ich die Last der unbeantworteten SMS nicht mehr schultern kann, greife ich zum Handy. Entschlossen und mit einer lässigen Handbewegung lasse ich die Schutzhülle aufschnappen. Nachricht lesen. Der ursprünglichen SMS sind zwei weitere gefolgt. Der Kampf in meinem Inneren muss so laut gewesen sein, dass ich sie überhört habe. Der Inhalt:  „???“ und „was ist los?“ Ich ärgere mich.
Irgendwie komme ich mir genötigt vor. Woher wusste mein Gegenüber, dass ich vor dem Laptop sitze und Zeit zum Antworten habe? Genau so gut hätte ich gerade in einem Termin sein können oder im Krankenwagen, weil ich vor lauter Druck aus dem Fenster gesprungen bin. Und weil man sich bei einem Sprung aus dem Erdgeschoss schon mal den Knöchel verstauchen kann, könnte ich gerade  auf einer Bahre liegen und ins Krankenhaus gebracht werden. Dann hätte ich bestimmt keine Zeit auf die SMS zu antworten. Daran würden auch Follow-Up-Nachrichten mit wütenden Fragezeichen nichts ändern.
Grantig lasse ich die Schutzhülle meines Handys zuschnappen. Jetzt erst recht nicht. Mit voller Absicht, aus reinem Trotz und um endlich mal ein Zeichen zu setzen, werde ich nun sicher nicht antworten. Das hat die Person davon. Kurz bevor ich mich in Rage denke und fest davon überzeugt bin, dass genau ein solcher, stiller Protest endlich einmal nötig sei – für die Freiheit Unser aller – kommt es mir in den Sinn. SMS kann man ruhigen Gewissens öffnen und lesen. Die bösen Häkchen die sich nach dem Lesen einer Nachricht blau verfärben gibt es ja nur bei Whatsapp. Mensch. Kein Wunder, dass ich das vergessen habe. Wer schreibt heutzutage bitte noch SMS? Wo sind die gute alten Zeiten geblieben, als die Ausrede „Nein. Ich habe keine SMS von dir bekommen“ noch zum guten Alltag gehörte? Und gab es damals nicht einen großen Aufschrei, als Whatsapp die Häkchen einführte? Wohin ist der verhallt? Wann ist all das normal geworden?
Einmal kurz nachdenken und nicht sofort reagieren und ich hätte mir einiges an Stress erspart. Und an Angst. Und an Ärger. Und an Wut. Letztlich hätte ich mir nicht nur all das erspart, sondern auch ein Stückchen Freiheit bekommen. Als ich einer Freundin von meiner Erkenntnis berichte, lacht sie nur laut auf und meint: „Du weißt aber schon, dass man die blauen Häkchen ausstellen kann?“ NEIN weiß ich nicht, verdammt! Hätte ich es gewusst, hätte ich nicht so lange auf meine Freiheit verzichtet. Obwohl. Ich habe sie ja auch irgendwann einmal freiwillig abgegeben.

Hier geht es zu den vorherigen Folgen der Kolumne "Kleingeist und Größenwahn".

Glaubt an das Gute im Menschen. Eigentlich Betriebswirt. Hat das ALPENFEUILLETON ursprünglich ins Leben gerufen und alle vier Neustarts selbst miterlebt. Auch in Phase vier aktiv mit dabei und fleißig am Schreiben.

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