Simin Tander: Die Stimme der Ent-Ortung

8 Minuten Lesedauer

 Das Album „What was said“


Es wirkt auf den ersten Blick absurd, konstruiert und aufgesetzt. Auf dem Album „What was said“ etablieren der Pianist Tord Gustavsen und die Sängerin Simin Tander unter anderem das Verfahren, Lieder, die ursprünglich auf Norwegisch gesungen wurden, in die Sprache, welche der Vater von Simin Tander spricht, zu übersetzen. Der Vater von Simin Tander stammt aus Afghanistan und die Sprache ist folglich Paschtu.
Doch damit nicht genug. Auf dem Album finden sich Verse des persischen Mystikers Rumi und des amerikanischen Beat-Poeten Kenneth Rexroth. Auch bei diesen wird das Konzept der Übersetzung und des sprachlichen und kulturellen Transfers angewandt. Simin Tander singt diese Verse nicht in ihrer Ursprungssprache, sondern auf Englisch.
Tord Gustavsen, eigentlich im erweiterten Jazz-Kontext zu verorten, wird außerdem nicht müde zu behaupten, dass ihm die auf diesem Album interpretierten norwegischen Kirchenlieder und Hymnen näher stünden als Jazzstandards. Die Konsequenz daraus ist auf dem Album gut hörbar. Möglicherweise ist das Jazz für Menschen, die keinen Jazz mögen. Es gibt weit und breit keine ostentativen Solo-Passagen, sondern überaus delikates Klavierspiel, das Genre-Grenzen erfolgreich abschütteln konnte.
Es ist denkbar, dass sein zurückhaltendes, fokussiertes und melodisches Spiel auch Hörerinnen und Hörern mit gänzlich anderen Vorlieben zusagen könnte. Die Musik auf diesem Album braucht den Begriff Jazz nicht, sie ist aber zweifellos mit dem Jazz verbundenen Haltungen verpflichtet.
Es wäre auch nahe liegend, dieser Platte den Begriff Weltmusik anzuheften und sie somit für ihre vorbildliche Multikulturalität über den grünen Klee loben. Gerade jetzt wären solche Platten notwendig, die exemplarisch vorführen, wie friedlich, kreativ und befruchtend verschiedenste kulturelle Versatzstücke nebeneinander existieren können. Zum Glück schert sich die Platte um solche Zuschreibungen und Ansprüche ebenso wenig wie um das oftmals geforderte musikalische „Reinheitsgebot“ des Jazz.

DIE Entdeckung auf "What was said": Simin Tander (Bild: Gerhard Richter)
DIE Entdeckung auf „What was said“: Simin Tander (Bild: Gerhard Richter)

Rein theoretisch könnte diese Platte grauenvoll sein. Sie könnte hochgradig konstruiert wirken. Es wäre einfach ihr allzu bemühte und zwanghafte Originalität zu unterstellen. Dass sie aber tatsächlich in höchstem Maße organisch und natürlich wirkt, verdankt sie mehreren Faktoren.
Zum einen ist es das bereits erwähnte Klavierspiel von Tord Gustavsen, das trotz der dunklen Stimmung der hier versammelten Lieder federleicht und befreit wirkt. Man hört eine erstaunliche Unbekümmertheit, die der Weisheit ähnlich ist. Es ist Gustavsen gleichgültig, ob Folklore oder gar Anklänge elektronischer Musik aufblitzen, ob sein Spiel manchmal sogar ein wenig vom Blues beeinflusst wirkt oder ob nicht doch Jazz die Basis von alldem ist.


 Die Entdeckung auf diesem Album: Simin Tander


Der tatsächlich Grund, warum die Musik auf diesem Album so grandios gelingt, ist aber Simin Tander. Bereits auf ihrem überzeugenden Vorgängeralbum „Where water travels home“ war es ihre Stimme, die betörte. Tanders Stimme kann zupackend und direkt sein – oder leise und hauchend und so ziemlich alles dazwischen. Bemerkenswert war auch damals schon, dass die ruhigsten Passagen die intensivsten waren. Gerade wenn sich die Stimme entzieht, sich nicht in den Vordergrund drängt, schafft sie eine immense Spannung. Die stimmliche Präsenz von Simin Tander ist erstaunlich. Ihre Stimme ist so präsent, dass sie es nicht notwendig hat mit penetranter Präsenz oder Lautstärke beeindrucken zu müssen.
Auf „What Was Said“ kommt ihre Stimme, auch aufgrund der hervorragenden Produktion und Aufnahme dieses Album, zur vollen Blüte. Es fällt schwer über ihre Stimme zu schreiben, weil sie vordergründig da ist, ohne sich aufzudrängen. Das Zusammentreffen von Simin Tander und Tord Gustavsen ist in dieser Hinsicht ein wirklicher Glücksfall. Wie sein Pianospiel will sich ihre Stimme nicht festlegen. Sie entzieht sich, ändert sich, überrascht ohne auf den schnellen Effekt und Irritation zu setzen.
Die Musik fließt dabei leise, tastet sich voran und Simin Tander übernimmt oft die Leitung dieser Lieder, ohne den Liedern zu stark ihre eigenen Marke und Präsenz aufzuzwingen. Das ließe sich vielleicht songdienlich nennen. Unter Umständen auch noch demütig. Am besten beschrieben ist ihre Stimme aber mit wandelbar und anschmiegsam.
Die Lieder auf diesem Album klingen, als wären sie nur mit ihrer Stimme denkbar. Jede andere Stimme wäre ein Rückschritt, ein Verlust. Das ist der Selbstverständlichkeit geschuldet, mit der sie diese Lieder interpretiert und mit ihrer Stimme zu dem macht, was sie ihrem Wesen nach sein sollen. Sie bringt die Lieder zur Blüte und setzt alle Mittel ihrer Stimme ein, um diese Zustand zu erreichen. Das alles tut sie mit zurückhaltender Virtuosität und immenser emotionalen Tiefe.
Exakt an dieser Stelle wird verständlich, warum diese Lieder und Verse von ihrer Ursprungssprache in eine andere Sprache übersetzt wurden. Simin Tander kommt ihnen so näher, kann sie erst richtig durchdringen. Das Wechselspiel von Verstehen und Nicht-Verstehen, von Verfremdung und Vertrautheit ist auf diesem Album zentral. Die Lieder werden ihren ursprünglichen kulturellen und sprachlichen Kontext entrissen und befinden sich somit in einem kulturellen Niemandsland, auf das niemand Anspruch hat.
Sie entziehen sich damit Erwartungshaltungen, Vorschriften und Konventionen. Erst dort können Simin Tander und Tord Gustavsen diese Lieder, ganz vorsichtig und mit größter Demut, neu zusammensetzen und danach fragen, was diese Lieder und diese Verse wirklich brauchen. Die Lieder werden dadurch ent-ortet und mit höchster Musikalität neu ver-ortet und interpretiert.
Es könnte keine bessere Stimme der gleichzeitigen Ent-Ortung und Ver-Ortung geben wie Simin Tander. Man möchte ich folgen, ist ihr nach wenigen Tönen bereits verfallen. Ihr Stimme klingt nicht wie die einer in Köln lebenden Musikerin, die einen afghanischen Vater hat. Sie eröffnete neue Orte, neue geographische Räume. Sie lullt nicht ein, sondern rüttelt auf. Sie lockert kulturelle Einschränkungen und Enge. Die Musik auf diesem Album wirkt, trotz des oftmals düsteren Untertons, darum auch sehr befreiend. Auf diesem Album und mit den hier etablierten Konzepten und Verfahren wird alles denkbar. Grenzen werden niedergerissen, ganz sanftmütig und doch mit einer enormen Bestimmtheit.
Das Album ist ein Triumph. Simin Tander ist eine Entdeckung, wie es sie selten gibt.


 Zum Reinhören



Titelbild: Steve Brookland

Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.

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