Zwischen Liebe, Pott und Schickeria – eine Chronologie des Leidens

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© by Timo Rüßler_pixelio.de

Fußball ist mehr als nur ein Sport, soviel steht fest. Fußball ist Massenphänomen, Familienfest, Fußball ist böse, Fußball ist gemein, Fußball ist Freude und Euphorie, Fußball kann Menschen einen und und auch trennen. Fußball ist Emotion. Nicht wenige Menschen halten sich trotzdem fern vom Sommervolkssport Nummer Eins, sehen gar nie ein Stadion von innen und machen sich somit nie ein Bild von den Fanbewegungen und deren emotionalen Berg und Talfahrten. Seit dem 23. April 2013 befinden sich vor Allem die Anhänger von Borussia Dortmund in eben jener emotionalen Achterbahn. Eine persönliche Chronologie:
Dienstag um Mitternacht:
Der Tag hat noch gar nicht wirklich begonnen, schon nimmt das Übel seinen Lauf. Alles, eben auch das Übel wird im Kommunikationszeitalter schneller verbreitet – durch das Internet und deren sozialen Netzwerke. Die Sucht nach den sozialen Netzwerken lässt einen vor dem Schlafen gehen noch die neuesten Statusnachrichten überfliegen. Ein ganz normales Procedere, die ganz normalen Benachrichtigungen, bis eben diese eine, kleine am Rand versteckte Notiz herbeirauscht: Die Bild meldet den Wechsel Mario Götzes zum Erzfeind Bayern München. Anfangs schmunzelt man ob so einer Meldung. Götze, das Megatalent, der Dortmunder Junge, der Inbegriff des BVB, das Gesicht des Dortmunder Erfolgs gegen die Dominanz der Bayern würde das doch nie machen, vor Allem nicht wenn es die Bild vermeldet. Man liest die kurze Meldung, Götze habe schon einen Vertrag unterschrieben, Dortmund ist machtlos ob der Ausstiegsklausel von 37 Millionen Euro, die dem Spieler die Möglichkeit bietet den Verein ohne dessen Bewilligung zu verlassen, wenn er einen anderen Verein findet, welcher bereit ist die Summe zu zahlen. Man wird doch stutzig, die Bild hat da ein gutes Näschen, viel mehr noch die Bild hat ihre Quellen, man will es nicht glauben! Also hellwach vor dem Laptop, das Smartphone gezückt, an die Bekannten ebenfalls bekennenden Dortmundfans die Nachricht verbreitet, gedeiht kollektives Gelächter, aber eben auch Unbehagen und leichte Verzweiflung, Groll und Hass gegen die Münchner, die ihren Charakter wieder einmal zeigen und schließlich bleibt nur noch die Hoffnung auf eine Zeitungsente. Man googelt nach offiziellen Statements, nach Dementis, nur nicht nach Bestätigungen. Ja es wird gebetet, dass es doch nicht stimmen dürfe, gebetet für die Einheit der Mannschaft, gebetet in den Spieler der dem lukrativen Angebot aus München (2 Millionen Euro mehr Gehalt pro Jahr) widersteht. Aber es passiert nichts, mitten in der Nacht. Man versucht zu schlafen.
Dienstag Vormittag:
Nach einer kurzen Nacht und dem kurzen Gedanken an einen schlechten Traum, erweist sich dieser leider doch als Wahrheit und man erfährt von einer offiziellen Pressemitteilung Dortmund um 10:15. Man schreibt sich wieder zusammen, man denkt an des Trainers und Managers bekannte Grinser, wenn sich alles nur als Scherz offenbart. Aber man muss warten. Zigaretten werden geraucht, man versucht sich irgendwie abzulenken, man denkt an Mittwochabend, an das große Duell im Champions League Halbfinale gegen Real Madrid, an die Stimmung, an den grandiosen Fußball, an die Spieler und vor allem an die Nummer 10, an Mario Götze. Und man aktualisiert alle zehn Sekunden die Internetseite um endlich Gewissheit zu haben. Und die kommt: Es stellt sich als wahr heraus. Manager und Trainer seien genauso überrascht, man habe von Seiten Bayerns noch nichts gehört. Man durchlebt Yodas Stufen zur dunklen Seite der Macht: Furcht führt zu Wut, Wut führt zu Hass. Hass führt zu unsäglichem Leid. Furcht vor dem Zerfall der Mannschaft, andere könnten es ihm gleich tun, Wut über die Bayern, über Götze und dessen Verhalten, über den Zeitpunkt der Bekanntgabe und Hass vor Allem gegen die Mannschaft aus München (viele auch gegen Götze). Götze verliert das Ansehen bei den Dortmunderfans, seine Facebookseite verliert 7000 Likes pro Stunde, seine Pinnwand muss ob der Hasstiraden gesperrt werden. Man will weinen. Die Wörter Heuchler, Verräter und Judas fallen. Götze braucht Personenschutz beim NICHT öffentlichen Training. Keiner will ihn beim so wichtigen Spiel gegen Real sehen, keiner will ihn mehr in Schwarz-Gelb sehen. Das Bild von ihm im roten Trikot erzürnt. Typisch Bayern, das Klischee wird erfüllt, man lenkt vor den eigenen Problemen (Präsident und Ex-Manager Hoeneß erstattete Selbstanzeige wegen Schwarzgeldkonten in der Schweiz) ab, und bringt Unruhe in das gegnerische Team. Man wünscht den Bayern alles erdenklich Schlechte, man betet Messi und Barcelona mögen sie am Abend zerstören. Leere breitet sich aus.
Dienstag Abend:
Bayern spielt gegen Barcelona. Bayern ist unglaublich stark in dieser Saison, das Triple ist möglich. Bayern wird aber verlieren, denn Bayern spielt gegen Barcelona. Bayern gewinnt 4:0, mit zwei irregulären Toren. Bayern wird mehr verabscheut denn je. Man verliert den Glauben an das Spiel.
Mittwoch Morgen:
Alles redet über den Sieg der Bayern. Nicht wenige sehen in ihnen schon den Sieger der Champions League. Trotz der Abscheu gegen die Bayern und der Abscheu gegenüber Götze, freut man sich auf das Spiel am Abend gegen Real. Es wird ein grandioser Abend, das wissen wir alle, denn wir sind ein starkes Kollektiv und lassen uns nicht einschüchtern. Der Trainer spricht von einer „Jetzt-erst-Recht“ Stimmung. Die wird verinnerlicht.
Mittwoch Abend:
Man sieht die Aufstellung, ja Götze spielt. Muss er auch, er ist der kreative Kopf der Mannschaft. Götze bekommt den Ball, nur wenige pfeifen ihn aus. Götze setzt sich auf der Seite durch, passt zu Lewandowski, der schiebt ein. 1:0 nach acht Minuten. Kollektiver Jubel. Die Mannschaft spielt bärenstark, schenkt dem Gegner aber ein Tor nach einem Abwehrfehler. 1:1 zur Pause. Man ist überzeugt vom Sieg. Anpfiff zweite Halbzeit, Dortmund gibt sofort wieder Gas, stürmt nach vorne. 45 Minuten traumhafter Fußball. Das Spiel endet 4:1, alle Tore schießt Lewandowski, der von den Bayern auch heiß begehrt wird. Unendliche Ekstase, unendliche Freude immer noch ungeschlagen zu sein. Götzes Wechsel scheint in diesem Moment vergessen, Lewandowskis aber bahnt sich schon an. Man wird das Gefühl nicht los, die Bayern schlagen ein weiteres Mal zu. Und man diskutiert noch einmal über Götze und dessen Lücke in der Mannschaft. Man einigt sich darauf das er durchaus ersetzbar ist, egal ob mit Neuverpflichtungen oder den jungen Talenten, die zweifelsohne vorhanden sind. Leicht geknickt muss man sich gegenseitig kneifen um zu realisieren was gerade passiert ist. Dass man Real Madrid aus dem Stadion und möglicherweise aus dem Bewerb geschossen hat. Man schläft gut.
Donnerstag Morgen: 
Euphorisiert startet man in den Tag. Zahlreiche Meldungen über den angeblichen Lewandowski Wechsel werden gelesen. Keine wird ernst genommen. Er hat keine Ausstiegsklausel, Dortmund versucht noch einmal den Vertrag zu verlängern. Dortmund macht sein eigenes Ding, die Erfolgsformel der letzten Jahre. Dortmund steht für echte Liebe. Bayern für Mia san Mia. Eigentlich trifft das aber doch mehr auf die Borussia zu. Schließlich perfektionierte man gerade dort jenes Motto.

Bild: Timo Rüßler / pixelio.de

1 Comment

  1. „Leicht geknickt muss man sich gegenseitig kneifen um zu realisieren was gerade passiert ist. Dass man Real Madrid aus dem Stadion und möglicherweise aus dem Bewerb geschossen hat. Man schläft gut.“
    – Yep

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