In loser Folge stellt das Alpenfeuilleton Ereignisse, Schicksale oder Gegenstände vor, die das Zauberwort „Alpen“ genetisch in sich tragen.
1.
Die Alpen sind berühmt dafür, dass sich in ihnen die Ereignisse nicht einfach abspielen, sondern wie auf einem Festival zelebriert werden.
Ob es sich um eine Freiluftperformance, eine Auswilderung geklonter Alpentiere oder die Renaturierung verkohlten Geländes handelt, in den Medien und im Netz wird immer nach der Dramaturgie extremer Ereignisse berichtet.
So kann es geschehen, dass man mit den gleichen Bildern eine Vorbereitung für die Erler Passionsspiele oder das Öffnen eines Überflutungsbeckens bei Grenoble bedient.
Je spektakulärer die Bilder, desto alpiner die Aussagekraft. Die höchste Aufmerksamkeit erreichen dabei Bilder mit Tieren.
Geradezu eine Ikone ist jeweils eine Kuh, die alle Viere hängen lässt und an einem Helikopter baumelnd über jenes Tal schwebt, das sie eben noch abgegrast und abgeschissen hat.
Die beste Presseagentur ist dabei die Natur, die immer wieder spontan sogenannte geologische Pressekonferenzen abhält, die schlagartig alle Korrespondenten des Kontinents anziehen.
Eine fliegende Kuh begleitet diesen Text:
Am 19. Mai 2025 hat sich am Kleinen Nesthorn in der Schweiz ein Felssturz ereignet. Laut einem Bericht des Walliser Boten brach ein Teil des Ostgrats ab und stürzte in Form einer Gerölllawine über den Birchgletscher ab. Dabei wurde auch Gletschermaterial mitgerissen. Der Abbruch bewegte sich in einem Couloir talwärts und kam rund 500 Meter oberhalb des Dorfs Blatten zum Stillstand. [Redaktion vol.at]
2.
In den Alpen lässt sich alles in Gold verwandeln, indem man es den Touristen zeigt und zum Kauf anbietet.
Finanzstarke Menschen am ganzen Kontinent sind wie wild darauf, in den Alpen ein Stück Grund und Boden zu kaufen, um ein kleines Häuschen darauf zu stellen. Je mehr dieses in der roten Zone liegt, umso wertvoller ist es, denn wo Katastrophen geschehen, ist immer auch Tourismus und Lifestyle.
Einmal schon hätte der Klimawandel beinahe diesem Erfolgskonzept einen frühzeitigen Garaus gemacht, indem er mit dem Schnee in gewissen Höhen sehr sparsam umging.
Aber die Tourismusindustrie hat das elegant in den Griff bekommen. Für die finanziell Schwächeren gibt es kleine Schneekugeln, die man schütteln kann, bis es darin schneit.
Für die Potenten gibt es Schneekanonen, die mittlerweile zu Kunstobjekten ausgebaut sind. In manchen Gegenden kommt der Tourist wegen der Schneekanonen und nicht wegen des Schnees.
3.
Eine ähnliche Erfolgsgeschichte verspricht das Projekt „Alpensturz“ zu werden.
Wo immer ein Berg zu kippen droht, versammeln sich die Influencer und inszenieren wagemutige Trailer aus der roten Zone.
An den Kiosken werden bereits kleine Schüttelgläser mit Skulpturen angeboten, nur dass es statt Schnee darin jetzt Geröll schneit.
Die Schneekanonen haben eine Zusatzapp und können Beton versprühen, wodurch die absinkende Landschaft stabilisiert wird ähnlich dem Auskleiden von Tunnels.
Tunnels und Kavernen sind bereits dort verpflichtend vorgeschrieben, wo ein Seismologe etwas Zittern auf der alpinen Richterskala festgestellt hat.
Vorausschauend grasen in manchen Tälern die Kühe unterirdisch, damit sie nicht ausgeflogen werden müssen, wenn es wieder rumpelt.
4.
Allmählich wachsen die einzelnen Bergstürze zu einem einzigen „Alpensturz“ zusammen.
Längst hat der Alpensturz den Schrecken früherer Sagen verloren. Heute gilt er als Event und als erfolgreiche Einladung, in die Alpen zu kommen auf einen Beton-Spritzer.
STICHPUNKT 25|46, geschrieben am 27. Mai 2025
