Auf den Spuren des Brache-Künstlers Lois Weinberger (1947-2020)
1.
Der Sinn eines Spaziergangs liegt in seiner Sinnlosigkeit, der tägliche Auslauf des Körpers sollte möglichst nicht mit einer Aufgabenstellung überlagert werden.
Die entscheidende Frage beim Spazieren muss lauten: Wie schnell oder langsam soll ich heute gehen? (Und wohin?)
An manchen Tagen ist es wie verhext, man kriegt wegen der Kreisform der Route keine Ziellosigkeit beim Rundgang zusammen und findet auch kein richtiges Spaziertempo.
Ein schlampiger Geher landet an solchen Tagen regelmäßig im ausgefranstem Gelände, wie die Stadt an ihren Rändern genannt wird.
Seit Lois Weinberger den Rand von Kulturen, Städten und Installationen erforscht hat, wissen wir um das Aufregende des Randes. Er verändert sich ständig, und wenn er sich aufgelöst hat, ist auch das Gebilde kaputt, das er einst umschlossen hat.
Ein Themenspaziergang an den Rand von Innsbruck zeigt etwa das Verschwinden des Randes. Mittlerweile sind alle Grundstücke bebaut, wo noch nichts steht, kann man offensichtlich nicht bauen. Es gibt kein urbanes oder rurales Gebiet mehr, alles ist bebaute Fläche.
2.
Entlang des Lohbachs etwa sind die Häuser als Bunker in die Höttinger Breccie geschrammt, die hoffentlich irgendwann als Fundament hergeht. Vorne freilich ist ein Streifen frei, er gehört dem Biber, den sich die ansässigen Grünen mühsam aus einem befreundeten Feuchtgebiet haben schicken lassen.
Ab und zu schlagen Hunde an, ein untrügliches Zeichen, dass es sich um Leerstand handelt, der mit großem Aufwand gesichert werden muss.
Und dann sind sie schon da, die Datenschutz-Schilder, wonach hier alles videoüberwacht ist, gespeichert wird beim Betreten des Grundstücks.
Die Anlegerwohnungen schauen aus wie überall auf der Welt, nämlich wie ein Kubus, der mit zwei Metallbändern rundum zusammengehalten wird. Das eine Band besteht aus heruntergelassenen Jalousien aus Panzerstahl, das andere Band reflektiert bei Sonnenschein und hat Leerkörper für Solarpaneelen aufgespannt, die bei einem etwaigen Sieg der Grünen als lokale Einspeisungen der Energiewende dienen werden.
Viele Häuser sind so neu, dass sie diesen frisch gedruckten Geldscheinen ähneln, die man eine Zeitlang in Händen halten konnte, ehe alles unter der Glocke des bargeldlosen Verkehrs verdampft ist.
Diese Häuser sind den sogenannten polierten Platten bei Münzsammlern ähnlich, du darfst sie nur mit Handschuhen berühren, damit sie keine Kratzer kriegen.
Eine Anlegerwohnung muss leerstehen und darf beim Verkauf noch nie benützt worden sein. Wehe, aus dem Wasserhahn kommt Wasser und aus der Steckdose Strom.
3.
Zum Spazieren ist so eine Gegend ideal, man braucht niemanden zu grüßen und hat doch den Eindruck, mitten im Leben zu stehen. Denn während so eines Rundgangs steigt der Börsenkurs wieder, wie man zu Hause auf einer App für Tagesgraphen gleich sehen wird.
Dabei ist Innsbruck im letzten Jahr an Bevölkerung um 900 Personen geschmolzen. Jeden Tag sind drei abgehauen, die es im Anlegerparadies nicht mehr ausgehalten haben.
Das zerfranste Gelände ist noch aufregender geworden, seit Innsbruck restlos verbaut ist. Wo immer man sich auch hinbewegt, man stößt verlässlich auf die Theorie des Lois Weinberger, wonach Pionierpflanzen auch ohne Boden unter den Wurzeln wachsen können.
Im Gedächtnis an den vor fünf Jahren verstorbenen Künstler verschwindet die Stadt allmählich und wächst einer unendlichen Brache entgegen.
STICHPUNKT 25|84, geschrieben am 05.11.2025