Irritierende Schreie in der Nacht auf den „Welt Femizid Tag“ am 25. November.
1.
In der Anlage wohnen viele ältere Jahrgänge, von denen manche oft über Nacht schwerhörig werden.
Meist sind es alleinstehende Personen, die die Kunst des Hin- und Weghörens parallel beherrschen.
Trotz allem sind die auftretenden Tag- und Nachtgeräusche für die vom Leben Gezeichneten erstaunlich korrekt zuordenbar.
Neue Geräusche fordern freilich selbst Gehörspezialisten heraus, indem sie ungefragt an schlechte Erfahrungen aus der Kindheit anknüpfen.
Unabhängig vom Gehörstatus legen sich viele bei Pensionsantritt einen Hund zu, der dann der Nachbarschaft mit den Worten angekündigt wird:
– Er ist total lieb.
– Wohlerzogen.
– Tut nichts.
– Beißt nicht.
– Und bellt nicht.
2.
Eine Jungpensionistin mit Gewalterfahrung legt sich pünktlich zum heurigen Welt Femizid Tag ein kleines Hündchen zu, das sie vor Gewalt schützen soll.
In der Nacht aber durchfluten helle, spitze Schreie die Anlage und reißen jene aus dem Schlaf, die noch ein Restgehör haben.
Statistisch gesehen hat ein Drittel der Frauen Erfahrungen mit Gewalt und dieses Drittel deckt sich mit jenen in der Anlage, die von den spitzen Schreien wach geworden sind.
Für die Gewaltanwendung an Frauen sind fast immer die Männer schuld. Freilich haben auch Männer erlittene Gewalterfahrungen, die oft in der Kindheit liegen und von Hunden ausgehen.
Hinhören, weghören, das ist die Frage in der Nacht vor dem Welt Femizid Tag. ‒ Soll man eine Notrufnummer wählen, soll man nachschauen, soll man abwarten?
Der schrille Schrei wiederholt sich nämlich nicht und hält dadurch die Aufgeschreckten in Ungewissheit wach. ‒ Ist Gewalt im Spiel? Ist es das Hündchen, das gestern von der Pensionistin ins Haus geholt worden ist?
3.
Selten wirkt am Morgen das Läuten an der Wohnungstür so befreiend wie nach dieser Nacht. Die Frau zeigt ihr verschrecktes Hündchen und erklärt, dass sie selbst ganz fertig sei, dass ihr Tier solche menschenähnlichen Angstschreie ausstößt.
Mittlerweile ist der Femizid Day angebrochen und wird gefeiert mit Statistiken, Referaten und Appellen, dass man ja nicht weghören darf.
4.
Zwei Männer stehen bei Tageslicht vor dem Mullhaus und gestehen sich gegenseitig ihre Hilflosigkeit und Angst vor Hunden.
Einer war einmal in der Bildung tätig und sagt über die Gesellschaft:
„Wir achten nur auf Konsum und Wellness, wenn wir uns etwas gönnen, aber niemand beachtet die Wut, die diese Eigen-Wohltat bei anderen auslösen.“
Und so werden täglich Zündschnüre verlegt für den Ausbruch von Wut und Gewalt.
– Der Biker terrorisiert die Ortschaften, wenn er mit Vollgas durchbrettert.
– Der Segler vergrämt die Nachbarn, wenn er den Winter über sein Segelboot illegal im Innenhof abstellt.
– Die Hundehalter (es gibt in Innsbruck knapp 6000 davon) terrorisieren alles, was ihnen entgegenkommt, durch Abgreifen mit der Schnauze des Hundes.
Wo hinhören, damit es jemand überlebt?
Wo weghören, um es selbst zu überleben?
STICHPUNKT 25|90, geschrieben am 26.11. 2025