Leseprobe: Sturmtänzer

Der neue Urban-Fantasy-Roman von Matthias Daxer.
12. Oktober 2025
4 mins read
Roman Sturmtänzer Cover
Roman Sturmtänzer Cover

Textausschnitt 1

Leon rannte. Sein Herz hämmerte. Noch war es nicht zu spät. Die schneebedeckten Fichten schossen an ihm vorbei, rot befleckt von der untergehenden Sonne. Kälte prickelte in seinen Fingern, die immer noch das Handy mit Elmas Nachricht umklammerten.

Es ist soweit. Komm, wenn du kannst.

Das war noch zehn Minuten vor Stundenende gewesen, aber Leon hatte die irritierte Miene von Herrn Faller ignoriert und sämtliche Schulsachen einfach liegen gelassen. Nur die Jacke, und dann aufs Rad. Im Stoßverkehr war er nur um Haaresbreite einem herandonnernden Bus entgangen. Doch auch hier oben, fern vom tobenden Talkessel, gönnte sich Leon keine Verschnaufpause. Nach der ersten Steigung hatte er sein Fahrrad in die Büsche geworfen und rannte das letzte Stück des Waldwegs hinauf zur Hütte seines Großvaters.

Drei Kurven noch, dann sind wir da, schmunzelte Opa aus einer weit entfernten Erinnerung. Von einem der langen Spaziergänge seiner Kindheit, wenn Opa ihn am Wochenende von der tristen Wohnung abgeholt und für ein paar Stunden in den Wald entführt hatte. Und nun lag der Mann, der ihn oft mit diesen Worten angezwinkert hatte, im Sterben. Die Erinnerung entfachte Leons letzte Kraftreserven. Am dämmernden Himmel zeichnete sich schon die bleiche Mondsichel ab. Leon spürte, dass die letzte Reise seines Großvaters begonnen hatte.

Textausschnitt 2

Elma legte die Hand auf Alois. Er war schon kalt geworden. Ihr Gewissen nagte an ihr. Wahrscheinlich würde es das für den Rest ihres Lebens tun. Trotz der Trauer in jedem Winkel ihres Herzens bereute sie es, Leon die Briefe gegeben zu haben. Alois konnte nichts für den uralten Kampf, in den er geraten war, aber die Schuld hatte bis zum Ende in ihm gewühlt. Die Briefe waren sein letzter Versuch, Frieden zu finden. Aber es stand mehr auf dem Spiel als das Seelenheil eines alten Mannes. Elma holte einen Zuber mit heißem Wasser und das Glas mit den getrockneten Kamillenblüten. Dann fing sie an, Alois zu entkleiden und zu waschen.

Ein falsches Versprechen hatte sie ihm gegeben. Ihn angelogen. Die Briefe zwar an seinen Enkel überreicht, aber nur, weil sie es nicht über sich bringen konnte, dem alten Mann in seinen letzten Momenten etwas abzuschlagen. Doch sie hatte das Böse gespürt, das Alois an der Schwelle erwartet hatte. Sie hatte gefühlt, dass seine letzte Hoffnung vergebens gewesen war.

Elma tupfte den toten Körper ihres Geliebten mit den Kamillenblüten ab, bevor sie mit der zweiten Waschung begann, diesmal mit kaltem Wasser. Nun musste sie dafür sorgen, dass Leon die Wahrheit nie erfuhr. Auch wenn es ihr das Herz brach. Es gab Untiefen in den sieben Welten, in denen man besser nicht rührte. Ganz gleich, wie schwer es fiel. Der Junge litt schon genug unter seiner Vergangenheit. Elma war fest entschlossen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, damit sein Leiden nicht noch größer wurde. Auch, wenn es ihren eigenen Seelenfrieden kostete.

Textausschnitt 3

Mela hatte geglaubt, sie wüsste, wie groß die Wolkenbarke sei. Sie hatte sie bei ihrer Ankunft gesehen: die gewaltigen Schornsteine, mächtige Segel, das schiere Ausmaß des Schiffs. Aber nachdem sie unzählige Tage und Nächte lang nichts anderes getan hatte, als zwischen den eisernen Gitterbetten und dem Stollen hin und her zu pendeln, begleitet von der kalten Frauenstimme – ihr lebt, damit wir leben – musste ihre Erinnerung fehlerhaft sein. Anders konnte sie es sich nicht erklären. Denn das vor ihr war kein Schiff mehr.

Da war ein Abgrund hinter einer Brüstung. Gegenüber leuchteten Fackeln wie Glühwürmchen aus dem Halbdunkel, in dem sich die andere Hälfte des Decks befinden musste. Nach links und rechts verlor sich ihr Blick in hellgrauem Nebel, der in dünnen Schwaden aus zahllosen Rohren und Schächten über und unter ihr strömte. Während unter ihr noch Fackeln glommen, wich der warme Schein in den oberen Decks einem violett-blauen Schimmer, der Mela an Elektrizität erinnerte. Das oberste Deck konnte das Mädchen ebenso wenig ausmachen wie das unterste, aber sie wusste nun, dass sie und die anderen Sklaven nahe am Grund des Schlundes gehalten worden waren. Versunken in der Dunkelheit. Mela spürte Abscheu in sich aufsteigen. Sie musste, wie die tausenden anderen hier, ihren Zweck erfüllen. Und dafür bekamen sie genau so viel, wie notwendig war. Nicht mehr und nicht weniger.

Die Barke dankt euch, denn euer Schweiß und euer Blut sind der Saft, der sie am Leben hält.

 Sie roch die Früchte ihrer Arbeit, den Herzschlag der Barke. Die Luft war erfüllt von klimperndem Gehämmer, zischenden Rohren, Stimmengewirr, vom Geheul fremdartiger Motoren, rasselnden Ketten, deren Glieder groß wie Häuser sein mussten. In Melas Nase vermengten sich der Geruch von Kohle an kalten Wintertagen, Gewürzen, abgestandenem Fett aus einer gigantischen Küche und einem sterilen Stechen, das sie entfernt an ein Krankenhaus erinnerte. Was man in dem ganzen Tumult nicht hören konnte, dachte Mela bitter, war das Klimpern der Pickel in den Bergwerken, das Knacken von Brosos gebrochener Hand oder das Wimmern der Frau, die gestern zusammengebrochen und von Krela fortgeschleift worden war.

„Beeindruckend, nicht wahr?“, flüsterte Aliir neben ihr. Sie sagte nichts darauf. Die Barke war kein Schiff, sondern eine Stadt. Und Mela wollte sie brennen sehen.

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Matthias Daxer

Jahrgang 1994, in Wattens aufgewachsen, lebt, schreibt und arbeitet heute in Innsbruck. Das Schreiben begleitet ihn schon seit der Volksschule. Während der Studienzeit las er auf diversen Poetry-Slam-Bühnen und schrieb für das komplex-Magazin Lyrik und Prosa. 2016 ist sein Debütroman, der Jugendkrimi „Unter allem liegt die Angst“, im Eigenverlag BoD erschienen. Auf ein Genre will er sich noch nicht festlegen – von Fantasy über Horror bis hin zu Cyberpunk hat ihn vieles in den Bann gezogen. Gerne verleiht er diesen Genres einen österreichischen Touch. Seit 2019 veranstaltet er unter dem Label „wort.wege“ Workshops zum kreativen und reflexiven Schreiben. Seinen Lebensunterhalt verdient er sich aktuell als Lehrer für Deutsch und Geografie.


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