Diese ganze halbkünstliche Aufregung hatte sich spätestens am dritten langen Adventeinkaufswochenende restlos beruhigt. Mitsamt dem Club der üblichen, zweit- bis drittklassigen Protagonisten: frustrierte, grüne Paradeemanzen, ein paar linkslinke Pseudointellektuelle und eine knappe Handvoll konservativer Schleimer aus den Reihen der altvorderen Sesselkleber. Ein Krampuslauf ist nun einmal ein Krampuslauf und keine dörfliche Fronleichnamsprozession mit Weißen Mädchen und Erstkommunikanten. Niemand hätte früher ein Wort, geschweige denn ein negatives Wort, darüber verloren, wenn einem ein Krampus mit rußigen Fingern das Gesicht geschwärzt, oder ein paarmal mit der Weidenrute die Wadeln massiert hätte. Die neckischen Spiele der Landjugend. Ein dröhnender Balztanz, eingebettet in Brauchtum und Tradition. Ein alljährliches, lokales Spektakel, wenn sich der Paradeteufel ein kreischendes und strampelndes Mädchen schnappte, schwungvoll über die Schultern warf und mit seiner schreienden und zappelnden Beute in der johlenden Menge verschwand. Wissendes Lachen. Augenzwinkernde Lüsternheit. Und jeder glaubte zu wissen, dass sich dieses Fräulein nicht umsonst freiwillig so spektakulär in die erste Reihe der Zuschauer gedrängt hatte.
Bis die selbsternannten Gutmenschen dahinter nur ihre eigene, verkorkste Sexualität entdeckten. „Ein Übergriff!“, „Sexualisierte Gewalt!“, „Das hat nichts mehr mit Brauchtum zu tun!“ usw..
Da galt es Position zu beziehen. „Was hier unter dem Deckmantel von sogenannten Übergriffen verdammt wird, ist nichts anderes als ein billiger und verabscheuungswürdiger Angriff auf unsere Vereine und Brauchtumsgruppen und ein Missbrauch unserer Traditionen! Wegen ein paar Bubenstreichen bricht die Welt nicht zusammen, sondern wegen dieser linken Gschaftlerinnen und Gschaftler – und hier gendere ich ganz bewusst – die bei jedem Witz und jeder Geste lautstark von Vergewaltigung schreien!“ Herbert K. in Bestform. Der Zuspruch war ihm sicher. Auch wenn ihm persönlich diese Krampusläufe aus ohrenbetäubendem Lärm, Alkohol und zotteligen Horrorgestalten zutiefst zuwider waren. Halloween für Erwachsene. Wer am Puls des Volkes bleiben will, der muss geschickt die Metamorphosen des Brauchtums für sich nützen. Selbst wenn dabei aus einer winterlichen Perchte oder einem biederen Krampus ein hyperaktiver, angetrunkener Freizeitzombie wird. Mit Wanderliedern und Würstelgrillen kann nicht einmal mehr die ÖVP reüssieren.
Demonstrativ übernahm Herbert K. daher dieses Jahr den Ehrenschutz für den Höllenlocher Teufellauf und unterstützte bereits im Vorhinein die Burschen und die paar Maiden mit einer Spende zur Gestaltung ihrer Kostüme, Masken und Trommeln.
Was er jetzt noch brauchte, war eine kurze Rede. Ein paar scharfkantige Sager, geradlinige, griffige Sätze, die nicht mit Tradition und Brauchtum herumscharwenzelten, sondern die direkt in die Herzen der jungen Leute und der Zuseher zielten.
Das konnte doch kein Problem sein! Aber: nichts, absolut nichts. Herbert K. und die Angst vor dem weißen Blatt. Kein Kalauer, kein bissiger Vergleich, keine polternde Parole. Nichts. Leere.
Das Problem lag offensichtlich in der Inszenierung. In jedem Bierzelt, in jeder Festhalle war Herbert K. der ungekrönte König, hielt die Zügel in der Hand und dirigierte seine Anhänger bis zum eruptiven Höhepunkt. Doch hier, beim Krampuslauf, war Herbert K. nur Zaungast. Zwar gern gesehen, oft auch bewundert, aber eben nur Zuschauer und nicht Akteur.
Man muss mit der Zeit gehen, die Mittel des Fortschritts nützen. KI, ChatGPT.
Erleichtert setzte sich Herbert K. an seinen PC, fuhr den Rechner hoch und öffnete das KI-Programm: ´Schreibe eine Rede für Herbert K. und die Jugend.` Enter.
Es dauerte nur wenige Sekunden bis am Bildschirm der geforderte Text erschien:
„Was wir uns von der österreichischen Jugend der Zukunft wünschen, ist etwas anderes, als was die Vergangenheit sich gewünscht hat. In unseren Augen muss der österreichische Junge der Zukunft schlank und rank sein, flink wie ein Windhund, zäh wie Leder und hart wie Stahl …“
Also dafür hätte Herbert K. wirklich keine KI gebraucht.