Natale saß über den Klippen von Xlendi Bay und ließ die Beine über dem Abgrund baumeln. Das Wasser dunkelgrau mit weißen Spitzen. Nur ein Wahnsinniger reist im Dezember hierher. Eine kleine Bewegung vorwärts, und es wäre zu Ende. Vielleicht dafür nach Gozo geflüchtet. Herauszufinden, wie weit er gehen wollte. Sich klar und kalt fühlen wie die Salzbrise, die ihn umspülte.
Wenn man lange genug ins Wasser starrte, erschienen Vexierbilder, Erinnerungsbilder, Einbildungen, verschwammen wieder. Eine rasend schnelle Diashow. Natales Blick floh in die Ferne, wo das Gekräusel zu einer Linie zwischen Himmel und Erde gerann.
Der Plan hatte sich zufällig ergeben. Sein Chef bei der Assicuranza, wusste nicht, dass er hier war. Er würde es erst nach Neujahr erfahren. Somit blieben noch ein paar Tage, um zu entscheiden, ob es sich um eine kurzzeitige oder eine lang währende Abwesenheit handeln würde. Aus den Wellen schälte sich ein rostig gelbes Fischerboot. Natale stellte sich das Gewimmel glitschiger, dem Tod geweihter Fischleiber in seinem Rumpf vor. Er vermeinte den Gestank zu riechen
Bis zu den Weihnachtsfeiertagen hatte er gerade noch durchgehalten. Aber natürlich nützten die gar nichts, weil dann Mamma wartete. Weihnachten ihre Zeit. Da musste die Familie antanzen: Isabella mit ihrem schrecklich lauten Mann und den noch lauteren Kindern aus Frankfurt, und Benedetto aus London, natürlich ohne seinen Liebhaber. Sie würden am polierten Kirschholztisch sitzen, die Deutschen würden lärmen und die anderen sich anschweigen.
Man würde Mamma nicht fragen, wie es ihr geht. Wahrscheinlich die letzten Weihnachten. Seit vier Jahren. Jedes Mal noch durchscheinender. Die Pflegerin würde eine fröhliche Miene aufsetzen, wenn sie Mamma an den Tisch karrte. Und dann die kalte, knochige Hand. Wie Klauen gruben sich die Finger bei jeder Begrüßung und noch tiefer beim Abschied ein.
Der Wind frischte auf. Man konnte sich darin verlieren – eine Düne, die Schicht um Schicht abgetragen wurde. Natale stellte sich vor, einfach so zu verschwinden. Er musste lachen — es klang wie das Gelächter der Möwen. Die kreisten über den Klippen. Die warteten darauf, wofür er sich entschied.
Er starrte auf das Wasser wie zuhause auf den Bildschirm. Eine Anfrage aus der Zweigstelle in Valletta hatte die Idee eingegeben, hierher zu fliegen und alle anstehenden Probleme zu lösen. Besser als nach Hause fahren und dem Sterben zuschauen.
In der Ferne fuhr ein vielstöckiges Kreuzfahrtschiff der Horizontlinie entlang. Sonst nichts. Im Rücken erstreckte sich kahler Karst. Irgendwo da hinten stand ein Leihauto am Straßenrand. Das würden sie finden und sich wundern.
Seit Wochen, Monaten hatte er sich vorangepeitscht wie ein sterbendes Pferd. Wann immer man kurz wegsah, lag wieder Arbeit vor. Seit Federica zu ihrem Mann zurückgekehrt war, gab es keinen Grund mehr abzuschalten. Doch zu Weihnachten würde sogar der Maileingang leer bleiben. Bis auf die Spams.
Er sog kalte Luft durch die Lungen. Der Wind riss am Lederblouson, das zu leicht war für diese Jahreszeit. Natale hatte erst durchgeatmet, als das Rütteln der Startbahn abbrach und die Räder einklappten. Das Flugzeug der Air Malta ließ in einem weiten Kreis den Nebel Mailands unter sich. Er schloss die Augen und versuchte nicht an Mamma zu denken. Er hatte sie angelogen. Und vielleicht wären es diesmal wirklich die letzten Weihnachten gewesen.
Bald lag unter ihm, zwischen ein paar Wölkchen, nur noch dunkles Meer. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte der Flug ewig über der leeren Fläche kreuzen können ohne je zu landen. Der Ruck und das scharfe Abbremsen, das ihn in die Gurte drückte, weckte ihn aus einem todähnlichen Schlaf. Natale war gelandet.
Ein lottriges Taxi brachte ihn nach Marsaskala, wo er sein Apartment bezog, sich ein Fläschchen Whisky aus dem Zimmerkühlschrank nahm und auf dem Balkon der Bucht zuprostete. Buon Natale a Valletta!
Am nächsten Tag streunte er zur Festung. Als er sich über die hohen Mauern der Anlage beugte, wurde ihm so schwindlig, dass er sich auf den Boden setzte. Es war, als hätte es ihn auf den Asphalt viele Meter unter sich hinabziehen wollen. Spring! Hatte sein Gehirn gerufen, spring doch! Nütze die Gelegenheit! Willst du wegen ein paar sinnloser Jährchen auf dich nehmen, wie Mamma zu enden? Schmerzen, Chemo, Verfaulen? Hier wäre ein schöner würdevoller Ort. – Aber doch nicht am Asphalt, hatte er sich zurechtgewiesen. Ins Weite, Unendliche, wenn schon, hinaus aufs Meer …!
Und natürlich nicht, bevor Weihnachten vorbei war. Besser, er machte sich auf die Suche nach einem anderen Platz, der nicht so hinunterzog.
Am dritten Tag checkte er in einem kleinen Chalet auf Gozo ein. Wieder mit Blick aufs Meer, doch in sicherer Distanz zu allen Klippen. Die Wirtin mit dem eigenartigen englischen Akzent liebte üppigen Weihnachtsschmuck, und ums Muttergottesbild blinkten vielfärbige Lämpchen. Ihr Eintopf von Zwiebeln und Bohnen lag ihm im Magen und verursachten Alpträume.
Mit einem geliehenen Fischerboot fuhr er hinaus aufs Meer, bis die Küstenlinie unterm Horizont versank. Erst da bemerkte er, dass er knöcheltief im Wasser stand. Sein Boot leckte, aber eigentlich egal. Er musste nur weiter hinaus. Wohin genau, wusste er nicht. Da draußen lag die Lösung. Hinter den Wellenkämmen. Natürlich versank er irgendwann hoffnungslos, schrie, irgendwer schrie mit, da wachte er in klammem Schweiß auf, die schwere Winterdecke um sich gewickelt wie ein Leichentuch.
Jemand schrie. War er noch auf dem Meer? Nein, eine Frauenstimme kreischte. Schritte rannten durchs Haus. Draußen unterm Fenster lief ein Motor. Er wickelte sich aus der Decke und trat ans Fenster. Die Wirtin gestikulierte aufgeregt auf einen Mann ein, der vor seinem stotternden Traktor stand. Drückte ihm ein dickes Bündel in die Hand, verschwand im Haus, kam mit noch einem Bündel zurück. Dann entdeckte sie Natale und fuchtelte zum Fenster hoch. Der verstand kein Wort, zuckte die Schultern, legte sich zurück aufs Bett.
Plötzlich klopfe es an seiner Tür. Nicht höflich. Herrisch pumperte es gegen die Holzfüllung. Missmutig stand er wieder auf.
Die Wirtin stürzte ins Zimmer: „Come!”. Das duldete keine Widerrede. Während sie einen Schwall maltesischer Wörter über ihn ergoss und zur Tür zurücklief, von dort noch einmal die Arme über den Kopf warf und schrie: „Eja! Come! Quick! Għandna bżonn! L-ghainunu Issa! Illum qabel aħada!!*“ und dann die Treppe hinabpolterte, zog er sich die Hosen über und band die Halbschuhe. Er warf sein Blouson über die Schulter und schlängelte sich die Wendeltreppe hinab.
Die Wirtin stieß ihn in Richtung Traktor, der Fahrer schrie: „Imma xiż żobb qed tasħmlu, minthiex tara li ghandnabzonnu l-ghainuna! Ejġa ħaffu ghax ħa jerqu!“ **) und bedeutete ihm aufzusteigen. Kaum stand er am wackeligen Trittbrett, tuckerte der Traktor los. Sie schrie ihnen noch etwas nach, das im Motorenlärm verhallte.
Natale, damit beschäftigt, sich festzuhalten, starrte wie der Fahrer wortlos ins Dunkel. Das Fahrzeug besaß kein funktionierendes Licht. Wie komisch das wäre, am Weihnachtsabend auf einer staubigen Landstraße auf einer verlassenen Insel unter diesem rostigen Traktor begraben zu werden! Dennoch klammerte er sich an den Griff und versuchte die Schlaglöcher vorauszuahnen. Der Fahrer mit der in die Stirn gezogenen Wollmütze sagte immer noch nichts. Sie würden eben irgendwohin fahren, gemeinsam. Mitten in der Nacht. Mitten durch den Karst von Gozo.
Nach ein, zwei Kilometern sah man Fahrzeuge mit hellen Staubfahnen denselben Weg durch die Dunkelheit nehmen. Alle fuhren sie auf die Küste zu. Natale versuchte die Zeit auf seiner Armbanduhr abzulesen. Zuhause wären die Kerzen jetzt wohl ausgeblasen und alle schliefen in ihren Betten.
Schließlich erreichten sie einen Platz oberhalb der Klippen, wo ein Dutzend Fahrzeuge kreuz und quer standen und ein Mann sie mit weit ausholenden Gesten zum Stehenbleiben aufforderte. Jetzt machte Natales Fahrer zum ersten Mal wieder den Mund auf: „Come!“ und drückte ihm eines der Bündel in die Hände. Es war weich und leicht. Vorsichtig folgte er dem Fahrer, jeden Schritt auf dem schmalen Steig mit den Füßen tastend, bevor er sein Gewicht aufsetzte. Plötzlich von Angst erfasst, der Umriss des Mannes könnte aus seinem Blickfeld verschwinden und er müsste den Weg durchs Dunkel alleine finden. Von unten hörte man Schreien, wie von Seevögeln. Jämmerlich und schrill. Dazwischen harte Männerstimmen. Eine Frau kreischte: „The children! The children!“, dann ging ihre Stimme in der Brandung unter.
Am Fuß der Klippen war der helle Strand von dunklen Flecken übersät. Natale blieb stehen. Ein Mann in Fischerkluft zerrte ihn weiter. Wies mit der Hand auf Schatten, die sich weiter drüben um ein dunkles Zentrum bewegten. Er schubste Natale in diese Richtung.
Natale trat in Pfützen und stolperte über Steine. Seine feinledernen Halbschuhe würden das nicht überleben. Bis er bei der Gruppe ankam, die aus ein paar Männern und am Boden liegenden Gestalten bestand. Einer der Männer riss ihm das Bündel aus den Händen und entknotete den Strick, der es zusammenhielt. Die Wirtin hatte zwei Wolldecken und einen Wintermantel in einem Badetuch eingeschlagen. Natale stand hilflos daneben. Keiner beachtete ihn. Ob die Menschen, die hier am Boden lagen, noch lebten, war nicht zu sagen. Natale getraute sich nicht, genauer hinzusehen. Wenige Meter entfernt schlug das Meer böse gegen die Klippen.
Da zupfte es an seinem Hosenbein. Natale ging in die Knie. Eine klamme schwarze Hand griff nach seiner Brust und zerrte ihn vor ein im Dunkeln kaum erkennbares Gesicht mit aufgerissenen weißen Augäpfeln. Die Finger gruben sich in sein Fleisch, als wolle der Sterbende ihn mit sich nehmen. „Help! Flee!“ flüsterte der Unbekannte. Die Wörter echoten in Natales Kopf: Man kann nicht helfen. Und man kann nicht fliehen.
*)“Wir brauchen Hilfe! Jetzt, nicht morgen oder irgendwann!“
**) Was zum Teufel tust du? Siehst du nicht, dass deine Hilfe gebraucht wird?! Tu endlich weiter! Die ersaufen!”
(Dank an Mathias Mangion Buontempo für die Passagen ins Maltesische)