Herbert K. war mittlerweile des Redens und des Zuhörens sowas von müde. Mehr als müde. Diese ganzen Phrasen, dieses verbale Schulterklopfen, dieses vermeintliche Zuhören, dieses Recht-Geben, Bauchpinseln und permanente Bewundern und Loben. Zudem sollte das alles noch ehrlich und echt wirken, so als ob es aus tiefstem Herzen käme, seine tatsächliche Meinung wäre.
Die Zeiten waren längst vorüber, als es Herbert K. noch so etwas wie Spaß bereitete, wenn es ihm wieder einmal gelang, ein ganzes Bierzelt mit deftigen Sprüchen auf die Bänke und Tische zu treiben, und seine Anhänger, trunken von Bier und Kameradie mit der John Otti Band die Schlagerhymnen aus Blut, Boden und ewiger Treue mitgrölten.
Das ist irgendwann zu wenig. Befriedigt nicht mehr. Vom Rednerpult „Wir sind das Volk!“ zu skandieren, mit einem Fake-Bier nachzuspülen und den Bundespräsidenten als Mumie zu bezeichnen. Im Grunde genommen – und das wusste Herbert K. ganz genau – war das nicht lustig; obwohl, ein vergreister Tiroler mit einem holländischen Namen – nein, nicht Geert Wilders. Der ist weder ein Tiroler noch ein Marcel Hirscher.
Es waren diese langen Jahre in der Etappe, immer wieder retour in die Etappe, die Herbert K. müde gemacht hatten. Diese hundertfach aufgekochten Floskeln. Jedes Mal vorgetragen wie eine Bergpredigt! Dieses Händeschütteln! Da hatte sich Herbert K. mit seiner leugnerischen Coronaskepsis selbst ein Ei gelegt. Wie hasste er es, jedem Hinz und Kunz, jedem Krethi und Plethi, die – wahrscheinlich – ungewaschenen Hände schütteln zu müssen.
Und dann noch sein direktes Umfeld. Quasi seine Prätorianer. Eine intellektuell zumindest fragwürdige Spekulantenpartie, bei der keiner dem anderen letztlich auch nur einen Meter über den Weg traut. Je weiter man nach oben kommen will, umso tiefer muss man sich bücken. Loyalität als gelebter Opportunismus.
Es wäre ja noch halbwegs zu verkraften, wenn diese Domestiken wenigstens still wären und sich auf Applaus und zustimmendes Nicken beschränken würden. Aber nein. Jeder einzelne davon ist restlos überzeugt ein unverbrüchliches Anrecht auf Lob und Streicheleinheiten zu besitzen. Die Entourage muss permanent emotional gefüttert werden. Das ist Teil des Geschäfts. Bitter notwendig. Mühsam. Entnervend. Ermüdend.
Hin und wieder nahm sich dann Herbert K. einfach eine Auszeit. Eine notwendige Pause vom Alltag. Ging in sein privates Büro, verschloss die Tür, brühte sich eine Kanne Tee und holte seine Lieblingsfilme hervor. Buster Keaton, Charlie Chaplin – nicht den „Großen Diktator“, den mochte sich der Mölzer anschauen. Stummfilme. Ohne Text. Ohne weitere Zuseher. Herbert K. blendete sogar die Tonspur aus. Endlich Ruhe!
Auf dieses nervöse Pianogeklimper konnte er gerne verzichten. Nur die Bilder. Die laufenden Bilder. Ohne Worte. Schwarz-Weiß. Wie sein Leben. Diese überbetonte Mimik, die fahrigen Bewegungen. Er spürte, wie er schon nach kurzer Zeit leichter atmete. Luft holen konnte. Regenerieren. Die eigenen Kräfte wieder fühlen. Die eigene Maskulinität.
Herbert K. stand auf, kontrollierte ob die Tür seines Büros tatsächlich versperrt war und kein Blick von außen durch die zugezogenen Vorhänge dringen konnte. Sein persönlicher, cineastischer Höhepunkt war im Kommen: Hedy Lamarr. Seine Göttin. Unnachahmlich. Himmlisch.
Schon nach wenigen Minuten ertappte er sich, wie er seinen eigenen Film zu drehen begann. In einem dieser weißen Häuser, am Uferhang eines mediterranen Gestades. Eine Art Hazienda. Casa Blanca. Ohne Humphrey Bogart, ohne Ingrid Bergman. Dafür mit Herbert und Hedy. Wie sie vor ihm stand! Ihm tief in die Augen blickte. Bis hinab in seine kleine, verwundbare Seele. Ganz tief hinein.
Nichts ist so leicht glücklich zu machen wie ein Mann!
„Ich schau dir in die Augen, Kleiner!“