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Theobald

Dort, wo die Vergangenheit wartet, beginnt das Unheimliche.
Start

Ich war lange fort gewesen. Als ich aus dem Zug stieg, war es, als hätte die Zeit sich nicht vorwärts, sondern nur seitwärts bewegt. Der Bahnhof schien bereits zu verfallen, rau und staubig wie ein verlassenes Relikt, umgeben von einer unheimlichen Stille. Die Dämmerung wirkte, als hätte sie nie aufgehört. In meiner Hand hielt ich einen Brief ohne Absender, der nach altem Papier und einem Hauch Lavendel duftete — etwas in mir wurde erinnert. Ich ließ meine Finger über das spröde Papier gleiten.

Der Brief war vor drei Wochen angekommen, in meiner kleinen Stadtwohnung weit weg von hier. „Die Zeit ist gekommen, den Kreis zu schließen“ stand darin in einer Handschrift, die ich gleichzeitig kannte und nicht kannte. Als fühlte meine Hand die Bewegungen nach, die diese Worte geformt hatten. Und darunter ein vergilbtes Foto vom Ansitz Taschenhofen, stumpf an den Kanten, auf dessen Rückseite nur ein Datum stand — nicht das heutige, sondern genau jenes, an dem ich als Kind dort fortgegangen war. Die eigenartige Übereinstimmung — der Brief kam exakt dreißig Jahre nach meinem Weggehen — konnte kein Zufall sein. Aber von wem stammte er? Theobald war lange tot, hieß es zumindest. Seine Handschrift jedoch — diese brüchigen, wie von einem inneren Zittern erfassten Buchstaben — schien es zu sein. Oder war es meine eigene, gealtert, verändert durch eine Zeit, die ich noch nicht durchlebt hatte? Der blumige Lavendelduft jedenfalls war unverkennbar Theobalds Signatur. Es war, als würde er mich umwehen, als hätte eine Hand aus der Vergangenheit — oder aus einer seltsam verschobenen Zukunft — nach mir gegriffen.

Die Umgebung erschien mir fremd und gleichzeitig vertraut. Der Nebel umhüllte alles wie Watte, feucht und klamm auf meiner Haut. Die Bäume standen wie gemalte Schatten Spalier, ihre Konturen kantig gegen den grauen Himmel. Dann, aus dem Grau, wuchs es empor — Taschenhofen, das Anwesen meiner Kindheit. Es schien zu schlafen, und ich, der Zurückgekehrte, fühlte mich wie ein Störenfried im Traum der Dinge. Fast fremdartig ragten die Mauern vor mir auf, schwarz und drohend gegen den blassen Himmel.

Die Tür quietschte, als ich eintrat, als hätte sie gewusst, dass ich kommen würde. Das Echo meiner Schritte hallte durch die verlassenen Räume. Die Luft war muffig und abgestanden. Etwas trieb mich unverzüglich die Stiegen hinauf in Theobalds Dachkammer. Es hatte immer geheißen, er sei ein Alchemist gewesen, ein Schwarzkünstler, ein Erfinder. Andere nannten ihn einfach „Onkel Theobald“ — ein Relikt aus einer Zeit, an die ich mich nur mehr bruchstückhaft erinnern konnte.

In seinem Zimmer unter dem Dach hatte er oft in seinem abgewetzten Lehnstuhl gesessen, dessen samtige Polsterung an den Armlehnen bereits kratzig geworden war, umgeben von verstaubten Vitrinen, klebrigen Landkarten und vergilbten Kinderzeichnungen. Sein Blick war stets auf das Ofenrohr gerichtet, während er sprach — nicht zu jemandem, nicht einmal zu sich selbst, sondern in eine Richtung, die niemand benennen konnte. Manchmal murmelte er unaussprechliche Worte, die in der Luft hingen wie faulige Früchte auf einem morsch werdenden Baum.

Die, die ihm nahe genug kamen — selten freiwillig –, berichteten später von Geschichten, die sich wie eigene Erinnerungen anfühlten, obwohl sie niemandem gehörten. Fragmente aus einer Zeit, die nicht vergangen war, sondern die sich nur irgendwo versteckte.

Dort in seiner Kammer fand ich sein Notizbuch — das Fragmentbuch. Als ich es aufschlug, begann alles erneut.

Die Kammer roch nach Staub und Asche, rauchig und erdig, als hätte man ein altes Grab geöffnet. Meine Finger ertasteten die Wand — etwas glibberig, kalt, nicht tot. Ein Flüstern wehte durch den Raum, Stimmen, kaum hörbar, wie Erinnerungen, die sich selber nicht mehr ganz vertrauten. Unter den Dielen dampfte es. Ich hörte ein Murmeln im Holz — eine Stimme aus der Tiefe, die mir riet umzukehren. Aber ich konnte nicht. Nicht diesmal. Etwas Uraltes und Formloses schien in den Mauern zu wohnen, ein Wissen, das keine menschliche Sprache fassen konnte.
Ich trat in den Hausflur mit den großen Spiegeln. Die zeigten mich, doch nicht wie ich war – sondern verlängert, zerlegt. Meine Haut erschien körnig und fahl. Ich sah mein Spiegelbild flirrend flackern, wie von einem fremden Licht erfasst. Mein Schatten bewegte sich schneller als ich. Plötzlich erblickte ich ein Kindergesicht, das aus einem Spiegel starrte, nur für einen Moment. Aber ich wusste: Ich hatte diesen Blick schon einmal gesehen. Die Augen blickten abscheulich verdreht in unmögliche Richtungen, wie von einer perversen Geometrie geformt. Eine Erinnerung an Wasser überkam mich. Ich sah eine Hand — Theobalds Hand — die einen Schlüssel ins dunkle Nass sinken ließ. Der Schlüssel sank langsam, drehte sich dabei wie ein träger, glitzernder Fisch und verschwand zwischen den schwarzen kräuselnden Wellen. Das Wasser fühlte sich eisig und schnitt wie Glas. Der Boden war schlammig, lehmig und bedeckt mit zerfasertem Laub und krustigen Ablagerungen, die ich zwischen meinen Fingern wabbelig spürte. Etwas berührte meine Knöchel — etwas, das sich nicht bewegte, aber lebendig wirkte, elastisch und gummiartig. Ein groteskes Wesen, das in dieser abgrundtiefen Dunkelheit zu Hause war.

Ich erinnerte mich an die Gläser mit den Augen in Theobalds Kammer. Ich sah die Runen auf dem Glas — meinen Namen, rückwärts geschrieben. Wenn ich meinen Namen sprach, bewegten sich die Augen, ein grünes blinzelte. Theobald hatte mir von einem Dorf erzählt, „wo sie den Toten die Augen nicht nehmen, um sie zu begraben — sondern um sie zu bewahren. In Regalen, hinter Weckglas, eingetaucht in Apfelgelee.“ Dorther stammten die Präparate in seiner Kammer. Manchmal, wenn der Wind vom Mooskreuz herunter wehte, begannen sie sich zu bewegen, zu rollen, zu zucken, als suchten sie das Gesicht, zu dem sie einst gehörten. Es war ein alptraumhafter Gedanke, dass diese Augen noch immer sahen, noch immer blickten, in einer bizarren Fortdauer des Bewusstseins.

Er sprach auch von einem verlassenen Kloster bei Odria, wo man „Vögel ohne Stimmen züchtete. Nicht durch Verstümmelung — nein, sie wurden so geboren. Weich und weiß wie Kalkstaub, mit starren, durchsichtigen Federn, durch die das Licht schweift wie durch Pergament.“ Ihr Gesang sei nicht hörbar, sondern nur im Kopf zu vernehmen — „nicht Klang, sondern eine Art Druck auf das Herz.“ Manchmal, sagte er, spüre man ihn noch Jahre später, bei Nacht, wenn alles schläft. Die Mönche dort hätten blasphemische Rituale vollzogen, um diese abnormen Kreaturen zu erschaffen, so grauenvoll in ihrer stillen Existenz. Er senkte seine Stimme, als sei die Erzählung selbst ein Sakrileg und kam auf ein Ritual zu sprechen, das einst an den Tafeln der Verdammten begangen wurde. Eine barbarische Delikatesse, so nannte er es, obwohl sein Blick dabei fern und gehetzt wirkte. Man fängt den winzigen Vogel, eine Ammer, „ortolanus“ genannt, und sperrt ihn in völlige Dunkelheit, damit er sich in der tag- und nachtlosen Verlorenheit mästet. Dann wird er ertränkt in Armagnac – nicht aus Grausamkeit, sondern als letzte Weihe. Man isst ihn in Stille unter einem Leinentuch, das über den Kopf gezogen wird wie die Kapuze eines reuigen Büßers. Nicht aus Scham, sondern um das göttliche Auge auszusperren. Haut, Knochen, Fleisch – alles wird verschlungen. Es kracht leise, als zerfalle ein Schmetterling aus Glas zwischen den Zähnen, die Mundhöhle wird von den spitzigen Knöchlein verwundet und blutet. Der Geschmack sei überwältigend, sagte er – eine Sünde, die das Hirn betäubt, weil sie so vollkommen ist. Odria sei ein Ort, der aus den Karten gestrichen ist, jenseits der Nebel, wohin sich das Land selbst wie eine Wunde zurückgezogen habe. Dort hätten sich Mönche einst diesem entsetzlichen Kult verschrieben. Er selbst habe einmal einen dieser Vögel gesehen, sagte er, in einem Glasbehälter voller Nebel. Und in jenem Moment habe er verstanden, was es heißt, „gesehen zu werden von etwas, das keinen Laut kennt“.

Und von einem verborgenen Tal hatte er berichtet, „jenseits der Wolkengrenze“, wo „Kinder nicht vom Kleinen ins Große, sondern von Alten zu Neugeborenen“ wuchsen — mit Falten geboren, mit der Sprache der Greise, borstig und knochig, und mit jedem Jahr jünger werdend, ihre Haut schmierten sie mit öligen Tinkturen ein, um das Altern umzukehren. Ich begann zu verstehen, was Theobald gemeint hatte, als er sagte, seine Worte seien Sporen. Sie wuchsen in mir, durchdringend und würzig. Ich war der Boden, den er besät hatte.

Der Spiegel an der Wand zeigte mir kein Bild mehr, nur Nebel. Ich meinte, Theobald hauchen zu hören: „Dann schweige. Wie ich. Lass die Zeit für dich sprechen.“ Auf dem Glas bildeten sich Worte wie aus Reif: „Du bist der Letzte, der sich erinnert.“ Ich wusste nicht, ob ich der Letzte war — oder der Erste, der erinnern verlernte. Meine Fingerkuppen strichen über die Worte und wurden schweißnass. Im Glas sah ich flüchtig etwas Unbeschreibliches, eine Präsenz, die mein Verstand nicht zu erfassen vermochte.

In der Nacht sprach er zu mir, aus dem Kamin. Metallisch blechern, fern. „Du erinnerst dich…?“ War ich Leser? Hüter? „Du bist das Echo“, sagte er. „Und bald — der Klang selbst.“ Ich spürte, wie die Worte in mir vibrierten.
Von unten stieg ein Geruch auf, süßlich, eisenhaltig, wie Blut auf rostigem Werkzeug. Lavendel. Und Asche. So hatte er immer gerochen. Ich konnte ihn fast erschnüffeln, als würde sein Atem mich umweben. Onkel Theobald und seine Geschichten, die sich in mir auftaten, torfig und harzig wie alter Wald.

Am Ende saß ich bibbernd im Lehnstuhl. Es war kalt, klirrende Stille, und meine Handschuhe rochen nach Lavendel. Ich schrieb, nicht aus mir heraus — sondern als Antwort auf eine Stimme, die älter war als mein eigenes Denken. Meine Finger zitterten, während ich die Feder umklammerte.

Mit bebender Hand verfasste ich einen Brief, ohne Absender. „Die Zeit ist gekommen, den Kreis zu schließen“, schrieb ich, und fügte ein altes Foto von Taschenhofen bei. Auf die Rückseite setzte ich ein Datum — nicht das heutige, sondern jenes, das dreißig Jahre in der Zukunft lag. Ich wusste nun, warum ich zurückgekehrt war, wer den Brief geschickt hatte. Ich selbst würde ihn senden — an mich, in der Vergangenheit. Der Lavendel, den ich auf das Papier streute, würde mit seinem Duft den jüngeren Teil von mir betören.

Dann öffnete sich die Tür. Ein Besucher trat ein. Er erinnerte mich an mich selbst. Seine Schritte waren schroff auf dem splitternden Holz. Die Luft schien schwül zu werden, dann kühl.

„Onkel Theobald?“ fragte der Besucher flüsternd, seine Stimme voll fragender Angst.

Ich sah auf. Lächelte. Und schwieg. Die Uhr hinter mir lief rückwärts. Die Temperatur im Raum schien zu schwanken, erst glühend, dann frostig und umgekehrt.

So wurde ich zu dem, den ich gesucht hatte. Meine Rückkehr nach Taschenhofen war nicht das Ende einer Reise, sondern der Beginn, in der ich nun Theobalds Platz einnahm. Die Geschichten und Fragmente, die er einst gesät hatte, waren in mir aufgegangen, hatten mich durchdrungen und verwandelt. Das Wissen fühlte sich an wie Honig, der zäh durch meine Adern sickerte.

Was ich nun weitergebe, waren nicht mehr seine Erzählungen — es waren meine geworden, wie formbarer Ton unter den Händen. Und der junge Mann, der mich nun „Onkel Theobald“ nannte, würde eines Tages zurückkehren, das Fragmentbuch finden und meinen Platz einnehmen. So wie ich. So wie alle vor mir. Ein ewiges Räderwerk, in dem ich nun die Fäden knete, zupfe und verwebe.

--- ein Schnappschuß

In die Mitte der 50iger Jahr geboren in Solbad Hall,
nach der Geburt verwechselt.
Humanisiert und romantisch verseucht von Kennedyanern an der Sill und vom Föhn.
Durch die Galerie St. Barbara kultiviert. Ab Mitte 70iger Jahre erste Lesungen zwischen mittelalterlichen Mauern und neuer Autobahn. Galerie „Erdbeben“
Buchhändler im In- und Ausland. „Der Brenner“ kennengelernt.
Inneneinrichter im Aus- und Inland.
Schule für Dichtung bei Ide Hintze und Anne Tardos.
Schwimm- und Schilehrer.
Erste Übersetzungsversuche 1980 in England für Linton Kwesi Johnson, von seinem Verleger vereitelt
Seit 1990 literarische Beiträge für diverse Druckmittel in und um Wien (Stuhlprobe, Dazwischen, Morgenstean, Etcetera, Dum) sowie graphische Beiträge für poetische Londoner Veröffentlichungen.
2001 Welturaufführung „Knoblauch & Weihrauch“ (eine Liturgie des Geldes) in Mödling,
Lesungen bei und mit „Labyrinth“, „Klopfzeichen“, im Literaturhaus Wien, in Prag und St. Pölten und andernorts..
Seit über 30 Jahren lebhaft in Wien ---

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