Lektüreempfehlung für Koalitionsverhandler und alle anderen Verzweifelnden

17. Feber 2025
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Foto von Markus Winkler auf Unsplash

Wir verstehen die Welt nicht mehr. Krisen, Krisen, Krisen allüberall.

Von Washington bis in den kleinsten österreichischen Winkel die Unfähigkeit, zu Lösungen zu finden. Jeder verspricht nur seine eigene „Lösung“ für ein Teilproblem. Es gibt keine Verständigung mehr über das große Ganze. Heraus kommt ein Zerrbild der Zukunft, wie wenn viele Zeichner mit verbundenen Augen gemeinsam ein Gesicht malen sollten.

Hier könnte Lektüre abhelfen: Nancy Fraser „Der Allesfresser – Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt“*. Das 2022 erstmals auf Englisch erschienene Buch ist eine, aufgrund der wissenschaftlich-exakten Darstellungsweise der Thesen, eine zwar etwas langatmige, aber dennoch enorm spannende und erhellende Lektüre. (Man kann sich beim Lesen notfalls auf die Summarys des ersten und des letzten Kapitels beschränken, versäumt dabei aber die logischen Herleitungen und erhellenden Fallbeispiele.) Fraser beschreibt verschiedene Phasen des Kapitalismus, vom Merkantilismus des 17. und 18. Jahrhunderts bis heute, als „eine Gesellschaftsform, die es einer offiziell als solche bezeichneten Wirtschaft erlaubt, monetären Wert für Investoren und Eigentümer anzuhäufen, während sie den nicht ökonomisierten Reichtum aller anderen verschlingt.“ **

Für den Gewinn einzelner ausgebeutet wird laut Fraser nicht nur, wie bei Marx, die Arbeitskraft („Produktivkraft“), sondern ebenso die natürlichen und sozialen Ressourcen, die private und öffentliche Fürsorge für menschliche Grundbedürfnisse, die kreativen Fähigkeiten des Einzelnen, seine soziale und politische Teilhabe.

Bisher konnte der Kapitalismus seinen (und damit auch unser aller) stetig wachsenden Hunger nach menschlichen und außermenschlichen Ressourcen, zuerst lokal, dann global stets noch irgendwie stillen. Doch nun stößt dieses Gesellschaftssystem weltweit an seine Grenzen und wird dysfunktional. Fraser bezeichnet unseren derzeitigen Zustand als „kannibalischen Kapitalismus“, der seit den 1980er Jahren alle äußeren und inneren Checks and Balances abgeworfen hat und nun ungehindert seine eigenen Ressourcen „auffrisst“ und damit an sich selbst zugrunde geht.

Die Endstimmung spürt plötzlich jede und jeder auch hierzulande, im eigenen Alltag, wenn auch auf unterschiedliche Weise: „Es geht abwärts“. Der eine macht es fest an Wirtschaftsdaten, der andere daran, dass er keinen Arzttermin bekommt. Der eine fühlt sich von den durch weltweite Krisen ausgelösten Flüchtlingsströmen bedroht, der andere durch Inflation und den Verlust sozialer Unterstützungsleistungen. Frauen fürchten den Niedergang mühsam erstrittener Rechte, andere fürchten allzu tiefgehende Eingriffe in ihre Privatsphäre, wahlweise durch Impfung oder Big Data. Viele fürchten die ultimative Umweltkatastrophe, die manche dann in ihrer allgemeinen Ohnmacht lieber verdrängen. Dementsprechend ringt jede und jeder verbissen mit seinen eigenen Problemen und hält den anderen mit seinen andersartigen Ängsten für blind und dumm.  

Fraser bringt alle Krisen und alle Ohnmachtsgefühle auf einen gemeinsamen großen, wenn auch wenig optimistischen Nenner: Sie vergleicht unser Gesellschaftsmodell mit dem Bild der sich selbst verschlingenden Schlange und bezeichnet unseren derzeitigen gesellschaftlichen Zustand dementsprechend als „kannibalischen Kapitalismus“.  Wir bekommen seine selbstzerstörerische Zuspitzung, vielleicht schon den Systemcrash, gerade in den USA vor Augen geführt. Auch Fraser kann nur eine Analyse, keine Lösung anbieten; aber das Verständnis der Zusammenhänge hilft vielleicht bei der Lösungssuche inmitten des notwendigen Paradigmenwechsels. Und die Lektüre trägt vielleicht auch ein wenig zum gegenseitigen Verständnis für die weitverbreitete Verwirrtheit bei.

Denn wen kann es angesichts dieser unverstandenen Multikrise noch wundern, dass Menschen verängstigt nach jedem Strohhalm greifen und dann womöglich ausgerechnet auf die allerprimitivsten Vorschläge von Politikern hereinfallen, die mit pauschal verwaschener Kritik am nie genau benannten „System“ dem Wähler ein Papa-wird´s-schon-Richten versprechen? Die Menschen fühlen richtig, aber verstehen unter „System“ das Falsche, bemerken nicht, wie in sich widersprüchlich diese politischen Versprechungen und Zielsetzungen sind, die genau das auf sein Ende zurasende „System“ weiter stützen und verstärken. Bemerken es nicht, wenn genau diese Parteien (meist am politisch rechten Rand) von den schamlosesten Großkapitalisten unterstützt werden. „Follow the money …!“ wäre, wie überall im kapitalistischen System, ein guter Grundsatz.

Insofern war das Motto der ersten Regierungsverhandlungen: „Nicht weiter wie bisher!“ die richtige Diagnose. Nur dann zu wenig weit gedacht. Deshalb scheiterten sie letztlich an der (von Fraser gut begründeten) Unfähigkeit der politischen Parteien (im In- wie im Ausland), mit so viel Komplexität umzugehen und – auch nur hierzulande — zu einer lösungsorientierten Koalition zusammenzufinden. Stattdessen griffen die Beteiligten wieder zum allereinfachsten Mittel: den Mitbewerber schlechtmachen. Das geht immer. Und das löst gar nichts.

Derweil gehen wir in die nächste Runde von Koalitionsverhandlungen und tappen irgendwie weiter durch die Dunkelheit der „Great Transformation“,*** eines schwierigen, da alle Lebensbereiche umfassenden, Paradigmenwechsels,  einer echten „Zeitenwende“, in der es bislang nur eine Gewissheit gibt: „The old is dying and the new cannot be born”.****

In so dunklen, verwirrenden Zeiten wie diesen bräuchte es als Lichtpunkte zumindest allseits ehrliche Ansagen, wie man sich eine gute Zukunft im Lande vorstellt und welche neuen Schwierigkeiten das jeweilige Zukunftsmodell für verschiedene Bevölkerungsgruppen mit sich bringt. Was wir sicher nicht brauchen, ist dumpfer Dauerwahlkampf mit leeren Phrasen. Wir brauchen vernetztes Denken und wirklich völlig neue Ideen, viel gemeinsamen Lösungswillen – von allen Seiten. Jeder Plan muss auf nachhaltige Zukunftsfähigkeit überprüft werden. Und es braucht den Mut, jenen, die es ertragen können, weh zu tun — Geburten sind nun mal gefährlich und schmerzhaft. Doch die Parole muss lauten: „The old is dying, so the new can be born.”

*) Nancy Fraser, „Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt“, Suhrcamp, 2023.

**) ebda. S 12

***) „The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen“,Karl Polanyi, Suhrkamp 1973; (Erstveröff. 1944)

****) „The Old Is Dying and the New Cannot Be Born. From Progressive Neo-liberalisms to Trump and Beyond”, Nancy Fraser, London/New York, Verso 2019

Geboren 1954 in Lustenau. Studium der Anglistik und Germanistik in Innsbruck Innsbruck. Lebt in Sistrans. Inzwischen pensionierte Erwachsenenbildnerin. Tätig in der Flüchtlingsbetreuung. Mitglied bei der Grazer Autorinnen und Autorenversammlung Tirol, der IG Autorinnen Autoren Tirol und beim Vorarlberger AutorInnenverband. Bisher 13 Buchveröffentlichungen.

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