AFEU-Literatur wiedergelesen
1. Worin liegt der Sinn beim Zurückschauen?
Als man noch analog unterrichtet hat, galt das sogenannte Geodreieck als das wichtigste Element der Schüler.
Der Merksatz lautete:
Mit dem Geodreieck kannst du die Gegenwart besser einschätzen. Du legst es links an einem Punkt der Vergangenheit an, stellst die Null in der Mitte auf Gegenwart und kannst die Zukunft ablesen, wenn du die Skala nach rechts weiterverfolgst.
Nach dieser Methode haben wir damals gelernt, dass man in der Literatur manchmal das Geodreieck an vergangene Werke anlegen soll, um die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft zu erahnen.
In der Serie „AFEU-Literatur-Wiederlesen“ ist das Geodreieck der Lektüre am Zehendreckkongress aus dem Jahre 1987 angelegt.
Es geht dabei wie immer um Tirol, wie es vom Tourismus heimgesucht und zum Trottel gemacht wird. Das heißt, die Tiroler machen sich selbst zum Trottel, indem sie seit Jahrzehnten sich selbst aufgeben und alles dem Glanz von Nächtigungen fremder Menschen in ihren ehemals eigenen Betten opfern.
In der Textprobe kommen Extrembergsteiger zu einem Kongress zusammen und überlegen, dass man die Almhütten besser auslasten könnte, wenn man Sherpas als Hüttenwirte verkleiden könnte, sodass die Touristen meinen, sie seien im Himalaya.
2. Zehendreckkongress – Textprobe
ZEHENDRECKKONGRESS. Es ist heute nicht mehr
leicht, einen anständigen Dreck auf den Kongress zu bekommen, oft kommt nur mehr der sprichwörtliche letzte Dreck. Und den soll man dann noch begrüßen, mit einer Messe womöglich , denn überall, wo der Dreck auftaucht, wird zuvor eine Messe gelesen.
Dreckansprachen , Dreckbegrüßungen.
Dankesworte des letzten Drecks. Voriges Jahr hatten wir den Kongress in Ranshofen, heuer in Wattens.
Der gute Dreck ist zwischen den Zehen eines Bergsteigers immer unterwegs.
Während sich der Bergsteiger badet, wartet der Dreck in einem Socken, denn nirgendwo geht der Dreck so leicht verloren wie in der Badewanne.
Was die Badewanne an Schaden anrichtet, macht der Bergsteigersocken wieder gut. Da man Bergsteigersocken nicht auskochen kann, bleibt immer etwas Dreck am Leben, der sich dann schon auf den nächsten Kongress freut.
Die besten Drecke können heuer in Wattens nicht mehr dabei sein, weil sie im Himalaja geblieben sind.
Einige Bergsteiger sind auch heuer nicht mehr aus dem Himalaja zurückgekommen, weil das Amen im Himalaja billiger ist als in Tirol.
Mancher Dreck hat sich zu früh gefreut. Während er schon einen Logenplatz für den Kongress in Wattens reservieren ließ, ist so manchem Dreck die Basis abgeschnitten worden.
Immer wieder kommen Bergsteiger aus dem Himalaja hocherfreut am Innsbrucker Flughafen an und lassen sich anschließend gleich den Dreck wegamputieren.
Der Bergsteigerdreck ist bekanntlich so heftig, dass er nur durch Amputation der Zehen zu beseitigen ist.
Die gefrorenen Zehen musst du täglich baden. Aber wo nimmst du am Himalaja ein Bad her, fragt ein Bergsteiger den Todeltodelreporter, der heuer ebenfalls fast seine Zehen im Himalaja drüben lassen musste.
Am Berg sind die Bergsteiger gute Kameraden, aber wenn es um die Tantiemen geht, werden sie zu reißenden Säuen.
Am Berg retten einander die Bergsteiger, um dann bei den Diavorträgen besser aufeinander einschlagen zu können.
Die meisten Diaschauer wollen keine Geschichte hören, sondern den Kampf zweier Bergsteiger um das Geld.
Die Häuser der abgestürzten Bergsteiger lassen sich genauso gut verkaufen, wie die der ermordeten.
Wenn ein Mörder zuschlägt, nimmt er auf den Beruf des Bergsteigers nicht die geringste Rücksicht.
Der oberste Bergsteiger hat die höchsten Berge nun alle bestiegen; er gibt zu, dass auf den Bergen nichts zu holen ist. Genaugenommen ist auf den Bergen nichts zu sehen, man könnte genauso gut in den Keller gehen.
Jetzt habe ich alle Gipfel bestiegen, jetzt mache ich die Wüsten.
In der Wüste ist die Luft nicht so dünn wie auf dem Gipfel, aber es gibt in der Wüste genauso wenig zu sehen wie auf dem Gipfel. Politisch gesehen ist unser Land übrigens so trostlos wie die Summe aller Gipfel.
Wer in Tirol einmal gewählt hat, kann in die Wüste gehen.
Ich mache keine Berge mehr, ich besteige keinen Gipfel mehr, vielleicht besteige ich zwischendurch ein paar Yak-Kühe, wenn ich das Basislager bewachen muss.
Die Bergsteiger mit den abgefrorenen Zehen müssen am Basislager zurückbleiben und es bewachen.
Während die echten Bergsteiger auf den Achttausender unterwegs sind, sitzen die ehemaligen Bergsteiger im Basislager und träumen den Zehen nach.
Ohne Zehen kein Dreck, ohne Dreck keine Expedition.
Nichts hört das europäische Publikum während der langweiligen Bergsteigerdias lieber, als wenn zwischendurch einer von seinem Dreck zu erzählen beginnt.
In Katmandu hat mein Dreck zu eitern begonnen, am Gipfel war mir schwarz vor den Augen, weil der Dreck inzwischen ins Hirn hinaufgestiegen war.
Der Dreck steigt schneller von den Zehen ins Hirn, als der Bergsteiger vom Basislager auf den Gipfel zu kraxeln vermag.
In Ermangelung eines europäischen Zehendrecks müssen sich die Scherpas an den Afterdreck halten.
Sie haben leicht barfuß gehen, weil ihnen der Dreck nicht zwischen den Zehen sitzt.
Helmuth Schönauer: Muff, Teig, Provinz, Erzählung, Roman. Innsbruck 1987
Roman frei downloadbar unter: Universitäts- und Landesbibliothek Tirol https://ulb-digital.uibk.ac.at/
3. Wie kann es enden?
Wie seit Jahrzehnten prognostiziert wird der Tourismus in Tirol damit enden, dass das Land eine Immobilie weltweiter Konzerne sein wird.
Die Nepalesen auf den Almen sind längst Wirklichkeit, weil sogenannte autochtone Älpler nicht mehr im Bergdoktor-Kitsch mitspielen wollen.
Das Land ist weitgehend ausverkauft und in Hand von internationalen Konzernen, wie etwa dem DFB, dem Deutschen Fußballbund, der erfolgreichen Spielern und Trainern wöchentlich den Ankauf von Immobilien in Tirol ermöglicht.
Der Zehendreckkongress findet nach wie vor als geheimes Treffen statt, in ihm werden die aktuellen Transaktionen (vielleicht sollte man Trump-Aktionen sagen) abgehandelt.
STICHPUNKT 25|66, geschrieben am 02.09.2025