Was schlussendlich wirklich zählt

Die Antwort überrascht.

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Foto von Hunt Han auf Unsplash
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Was im Leben und im Sterben wirklich zählt, sind andere Menschen. Menschen, die für uns da sind und die uns begleiten, wenn es wirklich darauf ankommt.

Leider musste ich unlängst und völlig unerwartet, meine Mama auf ihrem letzten Weg begleiten.

Noch ist es unvorstellbar, dass sie nicht mehr da ist. Mein gesamtes bisheriges Leben ist mit meiner Mutter verwoben. Ohne sie würde ich nicht einmal existieren. Meine Mutter war stets ein Teil meines Lebens, sie war einfach da. Ihr Dasein war die sicherste Komponente in meinem Leben. All dies fiel nun einfach von einem Tag auf den anderen weg und so ist mir die ganze Bedeutung ihres Verlustes noch nicht einmal zugänglich. Jetzt, tut es einfach nur weh.

Neben der Leere und der Trauer, die ihr Tod hinterlassen hat, empfinde ich aber auch eine tiefe Dankbarkeit. Ich bin dankbar, dass ich ihr in ihren letzten Stunden nahe sein durfte und die Möglichkeit hatte, sie auf ihrem letzten Weg zu begleiten.

Die Wirklichkeit holt uns sein

Das eigene anstehende Sterben, so wie der kommende Tod eines geliebten Menschen, katapultieren uns förmlich aus der Komfortzone unseres gewohnten Alltags heraus. Es fühlt sich an, als würden wir auf einmal im grellen Licht der Wirklichkeit landen, in welchem sich schonungslos offenbart, worum es wirklich geht.

Der Tod relativiert alles. Schlagartig wird uns klar, was wirklich wichtig für uns ist. Unsere üblichen Probleme und Herausforderungen erscheinen in diesem Licht ziemlich trivial. Im Vergleich zu existenziellen Themen wirken andere Probleme geradezu banal.  Wem kümmert es schon, wie die Noten aussehen, wie viel Geld am Konto ist, wohin der Urlaub geht, wer wen mag oder nicht mag, wer besser oder schlechter ist oder mit wem man gerade im Streit liegt? Klopft der Tod an die Tür, sinken diese Themen in die Bedeutungslosigkeit ab. 

Der Tod, zeigt uns schonungslos auf, worum es im Leben wirklich geht und was zählt. Wir erkennen, wie wertvoll Zeit und Beziehungen für uns sind. In solchen Momenten ist es wichtig, nicht alleine zu sein und die wenige Zeit, die noch verbleibt, miteinander zu verbringen.

Zurück zum Anfang

Der Anfang unseres Lebens gleich dem Ende unseres Lebens. Auch dort brauchen wir Beziehungen. Wir kommen als Pfleglinge zur Welt und brauchen andere Menschen, die für uns da sind und uns ins Leben begleiten.

Geschieht die anfängliche Versorgung ohne ausreichenden zwischenmenschlichen Kontakt, werden wir nicht überleben.  Eine rein körperbezogene Pflege reicht nicht fürs Überleben. Unsere menschliche Seite muss ebenfalls von Anfang an gehegt werden. Zum Überleben brauchen wir Menschen, die mit uns in Beziehung gehen. Menschen, die feinfühlig sind, sich auf uns einlassen, mit uns kommunizieren und sich liebevoll uns zuwenden.

Der weitere Verlauf

Aber nicht nur als Baby brauchen wir eine liebevolle Begleitung. Gute Beziehungen sind und bleiben ein Leben lang bedeutsam für uns.

Vor allem in schwierigen und herausfordernden Situationen merken wir, wir wichtig gute und tragende Beziehungen sind. Es ist einfacher, herausfordernde oder auch schreckliche Ereignisse – wie Liebeskummer, Jobverlust, das Ende einer Beziehung, den Tod eines nahen Menschen oder eine traumatische Erfahrung – zu ertragen und zu verarbeiten, wenn sich andere Menschen Zeit für uns nehmen und für uns da sind. Dann erleben wir, dass wir in unserer Not nicht alleine sind und das ist unsagbar heilsam für uns.

Für viele Menschen gehören die Eltern zur Gruppe der tragenden Menschen, die sie durch ihr Leben begleiten. Das macht den Verlust der Eltern noch herausfordernder.

Lebensanfang und Lebensende

Leben bedeutet immer Veränderung und somit auch Abschied. Irgendwann werden wir, aller Wahrscheinlichkeit nach, den Tod eines geliebten Menschen betrauern müssen und einmal wird es auch so weit sein, dass wir selbst im Sterben liegen.

Das, was wir am Anfang unseres Lebens brauchen, gewinnt auch am Ende unserer Tage an Bedeutung. Sofern wir nicht abrupt aus dem Leben gerissen werden, gleicht das Lebensende dem Lebensanfang. Geht es dem Ende zu, brauchen wir oft erneut Unterstützung und Pflege. In jenen Momenten, in denen wir uns selbst nicht mehr helfen können, hoffen wir auf Menschlichkeit zu stoßen.

Auf unserem letzten Weg brauchen wir Menschen

  • die sich, wenn wir es nicht mehr können, um unsere körperlichen Bedürfnisse kümmern, die uns pflegen,
  • die mit uns in Beziehung gehen und sich nicht von uns distanzieren, indem sie uns nur noch als Objekt wahrnehmen,
  • die nett und verständnisvoll mit uns sind,
  • die mit uns reden – auf Augenhöhe und nicht von oben herab, die mit uns und nicht über uns reden,
  • die sich trauen, emotional offen zu sein – die mit uns weinen und vielleicht auch einmal mit uns lachen, um all das, was gerade passiert, ein wenig erträglicher zu machen,
  • die es wagen, sich nicht hinter irgendwelchen Floskeln oder Techniken zu verstecken, sondern menschlich zu sein.

Am Anfang und am Ende unseres Lebens brauchen wir Menschen, die sich in uns einfühlen und für uns da sind.

Eine letzte Chance

Ob jemand, der uns nahesteht stirbt, oder ob wir selbst sterben, es wird eine Herausforderung sein.

Denn der letzte Weg ist kein einfacher. Wir müssen Abschied nehmen und mit ein wenig Glück, bekommen wir noch ein bisschen Zeit geschenkt, um diesen Abschied zu gestalten. Dann können wir vielleicht noch

  • sagen, was zu sagen ist,
  • tun, was zu tun ist und
  • fühlen, was gefühlt werden will.

Vielleicht bekommen wir die Möglichkeit, den anstehenden Abschied, so grausam und schmerzhaft er auch sein mag, gemeinsam zu betrauern. Denn beide Seiten müssen Abschied nehmen, der Sterbende genauso wie der Zurückbleibende.

Die verbleibende Zeit

Die unwichtigen Dinge fallen ab und auf einmal wird die Zeit, die wir noch miteinander verbringen können, wichtig.

Das Bewusstsein, dass es die letzten gemeinsamen Momente sind, verändert vieles. So werden oft lange mit sich getragene Verletzungen und damit einhergehende Vorwürfe angesprochen und bereinigt, es kann zu Entschuldigungen und Aussöhnungen kommen. Am Sterbebett hat man nichts mehr zu verlieren, wodurch sich manchmal neue Möglichkeiten ergeben.

Gelingt es diese Zeit gemeinsam zu nutzen, kann es in den letzten Momenten noch zu sehr ehrlichen Begegnungen kommen, die mit intensiver Nähe einhergehen. Eine Nähe, die wir im Alltag kaum mehr erleben.

Eine Achterbahn der Gefühle

Abschied geht mit starken Gefühlen einher. Da ist nicht nur Trauer und Schmerz, das gesamte Gefühlsspektrum kann sich zeigen.

Es wird Angst auftauchen und die Angst wird dazu führen, dass wir versuchen, den Abschied zu vermeiden. Dann halten wir beispielsweise fest, wollen nicht, dass der geliebte Mensch von uns geht oder verschließen unsere Augen vor dem Unausweichlichen und blenden den nahestehenden Tod aus.

Doch irgendwann kommt die Zeit, in der wir endgültig loslassen müssen. Jetzt geht es nicht mehr darum, was wir wollen, oder wovor wir uns fürchten. Jetzt geht es darum, da zu sein und dem Sterbenden – falls er es möchte – auf dem letzten Weg zu begleiten.

Der letzte Weg

Niemand kann den letzten Weg für jemand anderen gehen, wir können nur begleiten. Geht es dem Ende zu, werden wir oft wieder so zart und empfindsam, wie wir es am Anfang waren. Der Tod meiner Mutter hat mir noch einmal vor Augen geführt, was im Leben und im Sterben wirklich zählt. Es ist die gemeinsame Zeit, die wir haben.

Meine Mama hat mich in mein Leben begleitet und nun durfte ich sie aus ihrem Leben begleiten. Danke Mama, dass ich dich auf deinem letzten Weg begleiten durfte. Dieses Dankeschön richtet sich auch an meine Schwester. Denn auch ich war nicht alleine, meine Schwester war mit mir an Mamas Seite. Mein Dank richtet sich auch an alle Menschen, die andere auf ihrem letzten Weg begleiten, so wie an all jene, die die Hinterbliebene nicht alleinlassen und auch diese ein Stück ihres Weges begleiten.

Nach dem Tod meiner Mutter fühle ich mich „mutterseelenallein“. Die Lücke, die sie hinterlassen hat, wird niemand jemals schließen können. Manchmal möchte ich einfach nur alleine sein und in Ruhe trauern, dann wiederum tut es gut, wenn andere Menschen da sind und ich spüre, dass ich trotz allem nicht alleine bin.

Was schlussendlich wirklich zählt und was uns niemand nehmen kann, ist die Zeit, die wir miteinander verbracht haben und die Erfahrungen, die wir dabei gemacht haben. Die Erinnerung an die gemeinsame Zeit bleibt.

Im Hauptberuf selbstständige Psychotherapeutin mit freier Praxis in Innsbruck. Langjährige Erfahrung in der Begleitung von Menschen. Mehrere Publikationen in diesem Bereich. Erste Buchveröffentlichung: Das Buch des bewusst seins (ISBN-10: 3743101572, Book on Demand). Nebenbei Bloggerin und AFEU-Autorin.

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