„Ich habe recht!“

Wenn zwei sich streiten; wer hat recht?

19 Minuten Lesedauer
Foto von Afif Ramdhasuma auf Unsplash
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Die meisten von uns haben ein ungünstiges Beziehungsmuster gelernt. Wir haben gelernt, dass es lediglich eine richtige Sichtweise des Geschehens gibt, dass nur „eine Wahrheit“ existiert. 

Es gibt nur einen der recht hat!

Wissen Sie, worin wir uns alle gerne irren und verzetteln? Wir gehen davon aus, dass es nur eine richtige Sichtweise der Ereignisse, also nur eine Wahrheit gibt. Und nicht ganz unvoreingenommen, gehen wir natürlich davon aus, dass wir es sind, die die „richtige“ Sichtweise einnehmen und vertreten.

Eine Haltung mit der wir leicht einmal in Konflikt geraten. Vor allem wenn wir unterschiedliche Ansichten in Belangen haben, die uns wichtig sind. Dann streiten wir darum, wer denn nun die richtige Sichtweise hat, selbstverständlich mit der inneren Gewissheit, dass die Wahrheit natürlich auf unserer Seite ist.


Unbedingt mehr lesen. Der persönliche Blog von Psychotherapeutin und Autorin Brigitte Fuchs.
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Zu unserem Leidwesen jedoch vertritt der andere gerne genau dieselbe Ansicht. Dann kommt es nicht nur zu einem Konflikt, sondern zu einem „Kampf um das Rechthaben“.  Ein Kampf, in dem wir uns gerne einmal verlieren. Schnell geht es dann gar nicht mehr um die Sache, sondern nur noch darum, wer den Kampf gewinnt und schlussendlich recht bekommt.

Das Problem der ganzen Angelegenheit besteht darin, dass jeder der Parteien Recht haben will.

Doch lassen Sie uns einen kurzen Blick in die Praxis werfen:

Auf der Couch (*)

Beate ist verärgert und erzählt mir ausführlich, wie die Situation bei ihnen zu Hause gerade abläuft. Wie er sich – wieder einmal – nicht an die gemeinsam getroffene Vereinbarung hielt. Bei ihrem letzten Gespräch hatte er doch eindeutig zugestimmt, sie mehr zu unterstützen und sie im Haushalt zu entlasten. Und nun glaubt er doch tatsächlich, er hätte sein Verhalten verändert und seine Aufgaben erfüllt. „Nein, das hast du nicht!“ wirft sie ihm lautstark vor.

Neben ihr sitzt Klaus. Ein wenig betreten lässt er die Schimpftirade über sich ergehen. Es scheint ihm peinlich zu sein, wie Beate neben ihm und vor mir über seine vermeintliche Faulheit ablästert.

Er findet ihren Vorwurf nicht gerechtfertigt und so wirft er ein, dass er sich doch bemüht hat, ihr zu helfen. Kurz kommt er zu Wort und fängt an, mir seine Sicht der Dinge zu erzählen: Wie er die Toilette geputzt hat, wie er den Abwasch erledigt hat und sie immer wieder fragte, wo er sie unterstützen kann. Noch bevor er seine Sichtweise der Problematik weiter erörtern kann, fällt ihm Beate ins Wort: „Das stimmt so nicht, das war ganz anders!“ um dann ein wenig entrüstet fortzufahren, „und überhaupt, wo hast du dich denn bemüht?“

Abermals setzt Klaus an und zählt auf, was er alles im Haushalt gemacht hat. Erneut wird er von Beate unterbrochen, die nun thematisch abweicht und ihm vorwirft, dass er in der Therapie nur gut dastehen will. Dann wendet sie sich mir zu und erklärt mir, dass er das immer und vor allen Menschen so mache. Stets will er der „Gute“ sein und drängt sie in eine Rolle der „Bösen“.

Wer darum kämpft recht zu haben, macht Vorwürfe oder Anschuldigungen

In der heißen Phase eines Beziehungskonfliktes, ändert sich manchmal das jeweilige Thema des Konfliktes, in einer Geschwindigkeit, dass wir – oder auch ich in der Therapie – gar nicht mehr schnell genug reagieren können. Die meisten Paare neigen dann zu einem raschen Themenwechsel.

Um die eigene Argumentationslinie zu untermauern, werden weitere Konfliktthemen eingeworfenEin Geschehen, welches oftmals so rasch vonstattengeht, dass man auf die einzelnen Themen gar nicht mehr eingehen kann.

Der Partner steigt in den Kampf ums recht haben ein

Auch Klaus reagiert nicht mehr auf den Vorwurf, dass er immer der Gute sein will. In der Zwischenzeit hat er ebenso das Thema gewechselt. „Sie aber…“ und so dreht er den Vorwurf nun seinerseits um. „mit ihrer Haltung, dass sie immer alles besser macht und besser weiß.  Nichts kann man ihr recht machen! Egal wie sehr ich mich auch anstrenge, es genügt ihr sowieso nie! Es ist nie richtig, was ich mache und es ist nie genug!“

Sofort steigt Beate in den neu aufgeworfenen Konflikt ein, verneint ihre Besserwisserei genauso wie sein Bemühen und wirft ihm eine neue Anschuldigung an den Kopf.

Wollen wir recht haben, verhärten sich die Fronten

Innerhalb von Minuten sind die Fronten verhärtet. In diesem Moment existiert kein aufeinander zugehen mehr. Da ist keine Offenheit, kein Bemühen mehr, den anderen zu verstehen. Nur noch Anschuldigungen und Vorwürfe, die sich explosionsartig ausbreiten.

Im ersten Augenblick erschlagen mich solche Situationen und ein Gefühl von Ausweglosigkeit taucht in mir auf. Die Situation erscheint aussichtslos, was wahrscheinlich die gerade vorherrschende Stimmung der beiden beschreibt.

Alles wird in Frage gestellt

Mittlerweile sind wir in einem ausgewachsenen Beziehungskrieg gelandet. Einer Situation, in welcher die gegenseitigen Vorwürfe wie Geschosse aufeinander hageln. Wir haben uns weit vom ursprünglichen Thema entfernt, jetzt geht es um die Art des anderen und manchmal auch um den Boden einer Beziehung – darum, ob eine Beziehung mit diesem Menschen überhaupt Sinn macht.

Ich sehe, wie verletzt die Beiden sind. Schon längst hören sie einander nicht mehr zu, sondern versuchen nur noch sich zu verteidigen und den anderen ebenfalls zu verletzen.

In solchen Situationen greife ich üblicherweise nicht sofort ein, sondern schaue meist kurz zu, weil ich mir ein Bild davon machen möchte, wie die beiden mit dieser schwierigen und herausfordernden Situation umgehen. Finden sie keine Lösung, sondern steigern sich immer weiter hinein, greife ich ein und unterbreche die Anschuldigungen. Ich bitte darum, eine Pause einzulegen, damit wir gemeinsam hinsehen können, was denn da zwischen ihnen gerade passiert.

Jemand Anderes soll uns wenigstens recht geben

Kämpfen wir darum recht zu haben, suchen wir Verbündete in unserem Kampf. Wenn uns schon der Partner nicht recht gibt, dann vielleicht wenigstens die Mutter oder der beste Kumpel!

In solchen Situationen schaut mich das Paar meist auch erwartungsvoll an. Gespannt erwarten sie eine Lösung von mir. Dabei geht es schon längst nicht mehr um eine Lösung des Haushaltsproblems. In dieser Phase des Konfliktes wird eine andere Entscheidung von mir erwartet. Wie die Mutter bei einem Streit unter ihren Kindern, soll ich entscheiden, wer von den beiden denn nun recht hat und wer falsch liegt.

Zum Leidwesen beider, werde ich ihre Erwartungen enttäuschen. Denn zu meinem Glück befinden wir uns nicht vor Gericht und so muss ich kein Urteil darüber fällen, wer Recht hat und wer nicht.

Das ungünstige Beziehungsmuster des “recht haben wollens”

Die meisten von uns haben ein ungünstiges Beziehungsmuster gelernt. Wir haben gelernt, dass es scheinbar lediglich eine richtige Sichtweise eines Geschehens gibt, dass nur „eine Wahrheit“ existiert.

Eine Annahme, die Beziehungen schwierig macht. Denn ein Konflikt gründet stets in unterschiedlichen Sichtweisen, ansonsten hätten wir ja keinen Konflikt.

Gehen wir dann davon aus, es gibt nur eine Wahrheit, landen wir rasch in einer Kampfhaltung, in der es nicht mehr um die Sache geht, sondern nur noch darum geht, wer denn nun diese Wahrheit für sich beanspruchen darf und wer nicht? Und auf einmal dreht sich der Streit nur noch um diese eine Frage: „Wer hat recht?

Bei unterschiedlichen Sichtweisen hat keiner “das ausschließliche Recht”auf seiner Seite

Von der menschlichen Perspektive aus betrachtet, existiert keine absolute Wahrheit.

Unsere Wahrnehmung ist stets sehr subjektiv und so gibt es verschiedene Sichtweisen auf eine Sache oder auf ein Ereignis.

Im Grunde ist es so, als würde etwas vor einem Hochhaus sein. Schaue ich aus meinem Kellerfenster, sehe ich zwei graue Blöcke und rufe meine Freundin an, die im fünften Stock wohnt, um ihr davon zu erzählen. Diese blickt ebenfalls aus ihrem Fenster und sieht auch etwas. Von ihrem Stockwerk aus sieht sie aber eine weiße rundliche Scheibe und meint, dass ich mich wohl irre. Um zu überprüfen, wer von uns beiden denn nun recht hat und wer sich irrt, rufe ich meine Mutter an. Diese hat wohl einen Überblick über die Sache, weil sie im zwölften Stock wohnt. Meine Mutter blickt nun ebenfalls auch ihrem Fenster, schaut aber in eine andere Richtung und meint, da ist ja gar nichts. So, wer von uns hat denn nun wohl recht?

Genauso ergeht es uns in unseren Beziehungen. Jeder nimmt die Situation aus seiner Perspektive heraus wahr. Wenn meine Freundin jetzt bei mir ist und mit mir aus dem Kellerfenster sieht, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie dasselbe sieht, wie ich. Bin ich aber farbenblind und weiß es nicht, können wir uns sehr wohl über die Farbnuance, die wir unterschiedlich wahrnehmen, streiten.

Das Recht auf die eigene Wahrnehmung

Jeder hat seine eigene Sichtweise auf die Dinge und Ereignisse. Und jeder hat mit seiner Sichtweise prinzipiell einmal recht, denn sie beschreibt, „das ist es, was ich wahrnehme“.

Aber keiner hat die Wahrheit auf seiner Seite. Es ist eher so, als würden wir, wie bei einem Puzzle, nur ein Teilstück einer größeren Wahrheit sehen.

Unsere Wahrnehmung ist weder in der Lage, alle Informationen aufzunehmen, noch die Informationen vollkommen neutral zu betrachten. Unsere Wahrnehmung hat eine individuelle Polung und so selektieren, bewerten und interpretieren wir die Informationen, auf die wir stoßen. Dieser Prozess der Informationsaufnahme und Informationsverwertung ist keinesfalls vorurteilslos, sondern in höchstem Maße individuell gefärbt. So nehme auch ich als Therapeutin nicht alles wahr und bin ebenfalls keine Vertreterin der ultimativen Wahrheit, sondern kann nur meine Sichtweise zur Verfügung stellen.


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Wir nehmen Situationen unterschiedlich wahr

Tauschen wir uns miteinander aus, so glauben wir, wir reden über die Situation oder über das jeweilige Ereignis. Dem ist aber nicht so. Wir reden nämlich nicht über die Situation, sondern wir reden darüber, wie wir die jeweilige Situation wahrnehmen. Wir reden also über unsere Wahrnehmung der Situation und diese kann sich gleichen, sie kann aber auch voneinander abweichen.

Aus diesem Grund nehmen Klaus und Beate dieselbe Situation unterschiedlich wahr. Um nun herauszufinden, wie wir selbst oder auch wie der andere die Situation wahrnimmt, müssen wir uns der Sichtweise des Anderen annähern. Das können wir aber nicht mehr, wenn wir dem anderen bereits unterstellen, dass seine Sichtweise die Falsche ist.

Mit diesem Wissen wende ich mich den beiden zu. Zuerst einmal stelle ich fest: „Sie erzählen mir ihre unterschiedliche Sichtweise der Situation. Um sie besser zu verstehen, muss ich jetzt ein wenig nachfragen.“

Meist richte ich meinen Blick dabei weniger auf die aktuelle Situation, sondern achte gerne einmal darauf, ob ihnen diese Situation nicht irgendwie vertraut ist. Siehe dazu auch meinen Beitrag über: “Wenn das innere Gefühl der äußeren Realität widerspricht”

Rasch wird klar, dass sich Klaus seit seiner Kindheit bemüht, es den Anderen recht zu machen. Es ist sein Versuch, gemocht zu werden, sowie Konflikte, die für ihn unangenehm sind, zu vermeiden. In einer gewissen Art und Weise lag Beate mir ihrer intuitiven Sichtweise, er wolle immer der „Gute“ sein, also durchaus auch richtig.

Aus seiner Betrachtungsweise heraus nahm Klaus alles, was er für Beate tat, sofort als ein Bemühen wahr – er hat sich bemüht. Gleichzeitig tauchte seine alte Kränkung auf, die dazu führte, dass er sich verschloss. Wieder nützte all sein Bemühen nicht und er wurde weder gesehen noch gewürdigt!

Beate erzählt eine andere Geschichte. Seit ihrer Kindheit leidet sie darunter, dass sie auf sich allein gestellt war und ihr niemand half. Mit diesen Erfahrungen wird sie die Situation anders wahrnehmen als Klaus.

Die eigene Wahrnehmung gewichtet Informationen, die zu unserem Selbst- und Weltbild passen, hoch, während Informationen, die nicht zu unseren Vorstellungen passen, ausgeblendet werden.

Da es nicht zu Beates Vorstellung passte, dass Klaus sie unterstützte, konnte sie sein Unterstützungsverhalten auch nicht wirklich sehen und würdigen. Das wiederum passte zu den frühen Erfahrungen von Klaus, welche dazu führten, dass er dann wirklich nicht mehr half, wodurch die beiden in einer Wiederholungsschleife landeten.

Beide haben mit ihrer Wahrnehmung recht!

Bestehen die beiden nun darauf, dass ich eine Entscheidung treffe, wer recht hat, kann ich klar sagen, dass beide recht haben. Sie nehmen aus ihrem persönlichen Bezugssystem heraus wahr und unter diesen Gesichtspunkten sieht es genauso aus, wie sie es mir erzählt haben.

Genau das ist die Herausforderung, wenn wir auf unterschiedliche Sichtweisen stoßen. Ja, wir können darum streiten, wer denn nun recht hat, aber wirklich vorwärtsbringen wird uns dieses Verhalten nicht. Viel effizienter ist es, wenn es uns gelingt den Standpunkt des anderen anzuhören undwir versuchen, diesen nachzuvollziehen. Erst dann verstehen wir, warum der andere so denkt, fühlt oder handelt, womit wir einen Weg beschreiten, der uns wieder zueinander führt.

Ich will recht haben – ist immer ein Weg, der uns entzweit

Darum zu kämpfen, dass die eigene Sichtweise die einzig wahre und richtige istist kein Weg der zueinander führt.

Es ist stets ein Pfad, der die Gräben vertieft und die bereits eingetretene Trennung noch weiter verstärkt.

In diesem Sinne: Wollen Sie eine Beziehung mit dem anderen Menschen haben, oder wollen sie recht haben?

(*) Alle Beispiele, die von der Couch erzählen, beschreiben gewisse Dynamiken und Strukturen. Die Klientennamen sind fiktiv und wurden nur für einen leichteren Lesefluss hinzugefügt.

Im Hauptberuf selbstständige Psychotherapeutin mit freier Praxis in Innsbruck. Langjährige Erfahrung in der Begleitung von Menschen. Mehrere Publikationen in diesem Bereich. Erste Buchveröffentlichung: Das Buch des bewusst seins (ISBN-10: 3743101572, Book on Demand). Nebenbei Bloggerin und AFEU-Autorin.

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