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Rauchende Schüler

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Die Schule, an der ich vorbeiging, gilt in der Stadt als „gute Schule“. Es war mitten am Vormittag, und vor der guten Schule stand ein Schüler und rauchte. Er war 16, 17, jedenfalls Oberstufe, mit einem gewissen Sicherheitsabstand zur Matura. Ein Erwachsener ging vorbei und entpuppte sich als einer seiner Lehrer, indem er ihn anschnauzte: „Du rauchst? – Was fällt dir ein“ usf.

Da sagte der Schüler, indem er ungerührt weiter rauchte, einen kleinen Satz, der mich doch erstaunte: „Ich hab frei.“

Es wird niemanden verwundern, daß eine solche Szene zu der Zeit, um 1970, als ich selber in die Schule ging, nicht vorstellbar war. Kurze Zeit später allerdings verbrachte ich das Schuljahr 1977/78 in Dundee, einer schottischen Industriestadt, als „assistant teacher“. Dort durfte ich miterleben, wie die Schüler in den fünf Minuten, bevor es losging und alle Lehrer naturgemäß schon in der Schule drinnen waren, um dort die – immer gefährdete – Ordnung zu gewährleisten, vorne heraußen standen und genüßlich eine heizten, um ihre Mitschüler zu beeindrucken. Da es nicht Teil meines Jobs war, für Ordnung zu sorgen, kam ich ebenfalls erst in diesen letzten fünf Minuten, und von da ist mir das Bild eines meiner Schüler in lebhafter Erinnerung, einer aus dem ersten Jahr, also ungefähr 11, wie er mit dem frechsten Blick, den er zusammenbrachte, mir entgegenschaute und versuchte, trotz seiner erkennbaren Aufregung cool wie ein Alter einen weiteren Zug zu nehmen.

Unter den Schülern herrschte über meine Befugnisse Unklarheit, zumindest rechneten sie damit, ich würde sie bei den Lehrern anschwärzen, was ich aber aus Prinzip nicht tat.

Insgesamt herrschten dort rauhere Sitten als bei uns; während meines Jahres versuchten sie einmal, die Schule anzuzünden, einmal gab es einen wilden Streik. Auch die körperliche Züchtigung durch den Lehrer war noch üblich, wenn auch nicht weit verbreitet. „Give him the belt!“ riefen die Kindlein mir aufmunternd zu, als ich einmal ausnahmsweise eine ganze dritte Klasse zu beaufsichtigen hatte und Ruhe und Ordnung sich nicht einstellen wollten. „The belt“ war ein Lederriemen, der im Anwendungsfall dem Delinquenten über die Finger gezogen wurde, was offensichtlich sehr weh tat, dem Gesicht nach zu urteilen, das er machte, wenn er nach vollbrachter Züchtigung hinter dem Lehrer in die Klasse hereinkam. Unter den Tränen glitzerte allerdings auch der Stolz in den Augen, was für ein wilder Hund er war. Die meisten Lehrer verwendeten „the belt“ nicht mehr, und in den wenigen Fällen, wo das Instrument Anwendung fand, bewirkte es so viel wie alle schulischen Strafen, also nicht sehr viel. 1987 vermochten sich die Schotten nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs endlich von diesem schönen, alten Brauch zu trennen.

Ich ging dann übrigens weiter, weil ich ja nicht gut neben den beiden vor der guten Schule stehen bleiben konnte, um mitzuhören, was sie dann weiter redeten. So blieb mir die kleine Vignette mit „Du rauchst“ und „Ich hab frei“ gewissermaßen freischwebend im Bewußtsein und ließ mich eine zeitlang sinnieren über das weite Feld des Erziehens und darüber, was Leute so miteinander treiben, wenn der Tag lang ist, ohne daß ich damit zu einem Ergebnis gekommen wäre.

Walter Klier, geb. 1955 in Innsbruck, lebt in Innsbruck und Rum. Schriftsteller und Maler.
Belletristik, Essays, Literaturkritik, Übersetzungen, Sachbücher. Mitherausgeber der Zeitschrift "Gegenwart" (1989—1997, mit Stefanie Holzer). Kommentare für die Tiroler Tageszeitung 2002–2019.
Zahlreiche Buchveröffentlichungen, u.a.: Grüne Zeiten. Roman (1998/Taschenbuch 2014), Leutnant Pepi zieht in den Krieg. Das Tagebuch des Josef Prochaska. Roman, 2008. Taschenbuch 2014). Der längste Sommer. Eine Erinnerung. 2013.
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