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Vom Schummeln und Lügen  – Mit eigenen Augen

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„Ich hab´s mit eigenen Augen gesehen!“ – Dies war bisher der ultimative Beweis des Faktischen. Seit Kants Aufforderung zum eigenständigen Denken, seit dem Primat der positivistischen Wissenschaften, aber wahrscheinlich schon in der Urzeit war das Selber-Sehen und Selber-Hören der Ursprung aller Wahrheitssuche.

Und jetzt gilt das nicht mehr. Dies ist der Kernpunkt des Paradigmenwechsels unserer Zeit. Es begann schon mit Radio und Fernsehen. Doch mit der anonymisierten Massenkommunikation übers Internet ist nun endgültig jede Verbrieftheit einer Nachricht verloren gegangen. Wir leben in völlig verschiedenen, glaubhaften Wirklichkeiten. Jeder für sich in seiner, wenn´s gut geht. Wenn´s schlecht geht, einsam im Nirgendwo. Manchmal lebt ein einzelner sogar gleichzeitig in verschiedenen, einander widersprechenden Wirklichkeiten, ohne dies zu bemerken.

Die harmloseren falschen Realitäten sind Tiroler Bärensichtungen, welche in Kärnten aufgenommen wurden. Lustig auch der Papst, der mittels neuester Algorithmen mit weißem Daunenmantel und fashionablen Sneakers eingekleidet wird. Uns wird dazu erklärt, wir sollen einfach nicht gleich glauben, was wir mit eigenen Augen sehen. Wir sollen eben genau hinschauen. Die Finger kriegt der Algorithmus zurzeit noch nicht richtig hin. Daran könne man gefälschte Personenaufnahmen erkennen. Aber was, wenn der Algorithmus die Hand in der Hosentasche versteckt?

Nein, nichts ist mehr zu trauen. Nicht den eigenen Augen, nicht den eigenen Ohren. Kein Wunder, dass die größten Lügner nun andererseits bisher unumstößliche Wahrheiten als Fake News bezeichnen können. Dass Verbrecher und Diktatoren und Superreiche, die sich das leisten können, unsere Wirklichkeit nach ihrem Gutdünken formen. Dass nicht einmal wissenschaftlicher Evidenz mehr geglaubt wird. Dass Verunsicherung pandemische Ausmaße annimmt.

In welcher Wirklichkeit können wir denn noch sicher existieren? Wir sind jene Generation von Menschen, die mehr wissen kann als alle Generationen jemals zuvor. Und doch können wir uns auf dieses Wissen nicht mehr verlassen. Was der bisher journalistisch zuverlässige Moderator im Fernsehen erzählt, ist das von Algorithmen erzeugt? Spricht ein künstlicher Doppelgänger? Die vertraute Stimme des Politikers im Radio, ist die gefälscht? Hat den Artikel der verlässliche Kommentator geschrieben oder ChatGPT? Und plötzlich sind wir mitsamt unserer tollen Technologie in die Urzeit zurückgeworfen: Glaubhaft ist nur noch, was wir nicht nur sehen und hören, sondern auch riechen, schmecken und angreifen können. Ich lasse mir also die Welt besser wieder ganz analog von einer lebenden Person, die mir in greifbarer Nähe gegenübersitzt, erklären. Oder ich gehe selbst hinaus, um zu sehen, zu hören, zu riechen, zu schmecken – zu begreifen. Wir müssen wohl demnächst noch einmal ganz von vorne anfangen, unsere Welt zu entdecken.

Und wenn du in den Spiegel blickst, dann zwicke dich in den Arm. Nur wenn es schmerzt, kannst du sicher sein, dass du kein Datenhaufen bist — sondern tatsächlich du selbst.

Geboren 1954 in Lustenau. Studium der Anglistik und Germanistik in Innsbruck Innsbruck. Lebt in Sistrans. Inzwischen pensionierte Erwachsenenbildnerin. Tätig in der Flüchtlingsbetreuung. Mitglied bei der Grazer Autorinnen und Autorenversammlung Tirol, der IG Autorinnen Autoren Tirol und beim Vorarlberger AutorInnenverband. Bisher 13 Buchveröffentlichungen.

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