Mein Mittelmeer ist tot

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Barfuß hüpfen mein Bruder und ich über den heißen Asphalt, die Straße entlang bis zum kleinen Supermarkt. Gerade erst haben wir das fette Joghurt mit Honig und Walnussstücken zum Frühstück genossen, da steht die Sonne schon hoch am Himmel. Wir wollen eine Wassermelone, Pfirsiche, Trauben und Schokoladenkekse als Jause für den Strand kaufen. Mama hat uns ein paar lustige Münzen mitgegeben — dass wir diese nicht kennen, ist uns egal. Am Weg sehen wir rechts den verlassenen Rohbau eines Hauses, einen alten Fischkutter, vertrocknete Sträucher. Links ist ein ausgebrannter Bus, ein Esel, ein kleiner, unscheinbarer Postkasten.

Diese Einsamkeit ist wunderschön

Am Rückweg trägt mein Bruder die Melone — ich bin noch zu klein dafür. Wie jeden Tag, wollen wir auch heute an den Strand gehen. Wellenreiten, Obst essen, Bücher lesen, Karten spielen, Sandburgen bauen. Am späten Nachmittag, wenn der Sand kühler wird, stapfen wir die Sanddünen hinauf und laufen so schnell es geht wieder hinunter. Dann besuchen wir unsere Urlaubsfreunde, zwei Wiener Buben in unserem Alter. Am Weg von der einen zur anderen Bucht machen wir bei den zwei großen, alten Feigenbäumen Halt. Flink kraxeln wir über die Räuberleiter nach oben und stibitzen die dicksten und schönsten Früchte. Mit unseren Freunden bauen wir ein Boot aus Plastikflaschen und sind Seeräuber in wilden Gewässern. Danach spielen wir am Strand Fußball bis es so dunkel ist, dass wir das Meer nicht mehr sehen, sondern nur hören und riechen können. Doch abends wird auch das Meer müde, und mit der Windstille werden die Wellen ganz klein. Das Tosen von untertags verwandelt sich in der beschaulichen Bucht zum leisen Murmeln. Jetzt gibt es frischen Fisch, den der Fischer am Morgen in die Taverne bringt. Griechischen Salat, Souflaki, Zaziki, duftendes Okragemüse, frisch gepressten Orangensaft. Und jeden Tag Eiscreme.
Wir fühlen uns geborgen in der Wärme und Idylle dieses kleinen Dörfchens an der Südküste Kretas, fernab von den großen Hotelblöcken der Tourismusgiganten und der Hektik der Mitteleuropäer. Es gibt hier keine Freizeitanimatoren, Bootsausflüge, Swimmingpools oder Tauchkurse. Der nächste Bankomat ist zwei Autostunden entfernt. Und gedanklich sind wir meilenweit weg von Hausaufgaben oder Regenwetter. Alles was zählt ist die Milde, Originalität und Lieblichkeit dieses schönen Stücks Erde. Das Mittelmeer ist für uns Kinder wie ein guter Freund, fern von zu Hause, den wir jedes Jahr aufs Neue besuchen. Uns präsentiert es sich zart und freundlich, nie haben wir Angst, allenfalls Respekt. Wir lieben seine Farbe, seinen Geruch, den salzigen Geschmack, den es auf unseren Lippen hinterlässt.
Die Urlaube auf Kreta zählen zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen. Als Kind aus den Alpen, dessen Horizont die Berge bilden, bot mir das Mittelmeer Abenteuergeschichten jenseits der felsigen Berghänge und verschneiten Almen Tirols. Gierig verschlang ich die Geschichten vom Kampf um Troja und von Odysseus’ Irrfahrten am Mittelmeer. So bekam ich ein Gespür für die verschiedenen Sprachen auf der Welt, die Völker, die Kontinente, die Meere. Ich wurde neugierig was sich hinter dem Horizont verbirgt.

Ein Meer geht unter

Jahre später kenne ich die Geldmünzen gut und kann die Melone selbst tragen. Doch das Mittelmeer hat für mich längst an Reiz verloren. Es kam der Arabische Frühling, der Syrienkrieg, ein neues Aufflammen brutalen Terrors in vielen Teilen Afrikas. Menschen werden aus ihrer Heimat vertrieben, entfliehen dem Tod und wagen die gefährliche Flucht übers Mittelmeer nach Europa. Woche für Woche lese ich Berichte über Menschen, die diese Überfahrt nicht überleben. Boote aus Plastikflaschen und Seeräuber bekommen jetzt für mich eine ganz andere Bedeutung. Denn die Nachrichten, dass zehntausende Menschen im Mittelmeer ertrinken, lassen dieses Meer plötzlich dunkel und bedrohlich wirken. Ich erinnere mich zurück an Odysseus und verstehe bald, dass das Meer, an dem unser Kontinent einst zu blühen begann, jetzt ein Abbild von Europas politischem Versagen, jahrhundertelanger Ausbeutung und grausamer Ignoranz und Arroganz ist.
Die Vorstellung, mich beim morgendlichen Rückenschwimmen von den Strapazen des Alltags zu erholen, während Menschen nur wenige Kilometer weiter südlich im selben Gewässer um ihr Leben kämpfen, erscheint mir verkehrt. Menschen verlieren ihre Familien, verwenden ihr ganzes Erspartes und geben ihr Leben in die Hände krimineller Menschenhändler um nach Europa zu gelangen; in das Europa, in dem ich am Strand in der Sonne brutzle, mir den Bauch mit Vanilleeis vollschlage und den Blick aufs Blau des Meeres genieße. Meine größte Sorge ist womöglich der richtige Sonnenschutzfaktor. Die größte Sorge vieler Menschen zwischen den Küsten Afrikas und Europas ist die Angst ums eigene Leben. Habe ich keine Lust mehr auf die salzige Luft des Meeres, die Hitze und den Sand, zücke ich meinen Österreichischen Reisepass und fliege nach Hause. Die Stacheldrahtzäune und Mauern an den Außengrenzen Europas brauchen mich gar nicht zu interessieren.
Mit diesen Gedanken im Kopf, entsteht in mir ein hässliches Bild von Urlauben am Mittelmeer. Nichts wünsche ich den griechischen Wirtsleuten meiner Kindheit mehr, als Sommertouristen, die ein bisschen Geld ins Land bringen. Doch wie kann ich auf Kreta, Malta oder Sizilien Ferien machen, wo Container für die Erstversorgung angeschwemmter Flüchtlinge das Bild in Hafenstädten prägen, wo Leichen im selben Wasser treiben, in dem ich bade? Wie kann ich mich genüsslich an den kühlen Abendstunden der mediterranen Luft erfreuen, wenn draußen am Meer die Küstenwache mit Hubschrauber und Booten die Grenze sichert? Ertrage ich das Bild dieses Leides nicht? Bin ich Vollbluteuropäerin, die Tod, Armut und Unglück nicht ins Auge schauen kann? Vielleicht. Sicher jedoch, widersetzt sich mein moralisches Bewusstsein dieser Art des naiven Wegschauens, das ich im Sommerurlaub betreiben würde.

2 Comments

  1. Wunuderschöner Artikel, er beschreibt genau jenes Lebensgefühl, das mich jahrelang auf meinen Urlaubsreisen begleitete.
    Wenn ich heute im Gedanken am Strand sitze, bin ich sehr traurig.

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