Wenn Sebastian Kurz spricht und der große Aufschrei folgt

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„Die größten Heuchler sind fraglos diejenigen, die offene Grenzen fordern: Insgeheim wissen sie, dass es dazu nie kommen wird, weil dies sofort eine populistische Revolte in Europa zur Folge hätte. Sie inszenieren sich als schön Seelen, die über der korrumpierten Welt stehen, aber letztlich wissen sie ganz genau, dass sie selber Teil davon sind“. So gnadenlos formuliert es der slowenische Philosoph und bekennende Linke Slavoj Žižek in seinem Buch „Wenn die Utopie explodiert“.
In einem verkürzten Diskurs und ohne Nennung des Autors wäre es im Moment durchaus denkbar, dass dieses Zitat einem bekennenden Rechten und Ausländerfeind in die Schuhe geschoben werden würde. Derjenige würde nicht begreifen, dass „Gutmensch“ kein Schimpfwort sei.
Derjenige wäre nicht dazu in der Lage, die Verdienste der „Willkommenskultur“ ausreichend zu würdigen und verstiege sich zu der Aussage, dass es diesen Menschen nur um die Inszenierung der eigenen Überlegenheit und der eigenen „schönen Seele“ ginge, die weit über den Niederungen des hetzerischen Diskurses in Bezug auf die Flüchtlingsthematik stünde.
Sebastian Kurz war bislang relativ unverdächtig, rechtsradikalem oder menschenverachtendem Gedankengut anzuhängen. Seit seinem gestrigen Interiew ist das grundsätzlich anders geworden. Er tätigte die Aussage, dass Australien ein Vorbild sei, wenn es um das Thema Migration ginge. Der Aufschrei ließ nicht lange auf sich warten. Anneliese Rohrer ließ bald darauf ein „Mein Gott, Herr Kurz“ von sich hören und erklärte dem doch arg jungen Außenminister, wie die Zustände dort wirklich wären.
Ebenfalls nicht lange auf sich warten ließ der Vergleich mit HC Strache. Kurz sei der „Strache für Zusatzversicherte“. Womit wiederum ein Seitenhieb losgeworden wäre, was die wohlbehütete Kindheit und den bruchlosen Aufstieg zur ÖVP-Politik-Hoffnung betrifft. Dieser junge Mann sollte einfach mal auf einer Insel im Nirgendwo ganz ohne Hoffnung warten müssen. Dann würde er anders reden.
Diese Argumente der „schönen Seelen“ folgen allesamt einem Muster: Der Emotionalisierung und der Zuspitzung des Diskurses. Die Emotionalisierung steht in engem Zusammenhang mit einigen Argumenten, denen nicht widersprochen werden kann: Die Menschenrechte seien universell und unantastbar. Jeder Mensch hätte das Recht auf Asyl, ohne Wenn und Aber. Kein Mensch sei illegal. Und als Menschen seien wir schlicht und einfach in der Pflicht, diesen Notleidenden Menschen zu helfen.
Die Zuspitzung des Diskurses auf „Freund“ und „Feind“ der migrierenden Menschenmenge ist dabei in Wahrheit eine Verengung. Es geht nicht mehr um eine Erweiterung und Ausdifferenzierung der Diskurse, sondern um eine strikte Gegenüberstellung und Entgegensetzung, der jegliche Differenzierung fast vollständig fehlt. In diesem etablierten Verfahren der Schwarz-Weiß-Unterscheidung ist es nicht denkbar, dass sich ein Diskurs jenseits der „Hetze“ und jenseits des „Gutmenschentums“ etablieren kann, der weitestgehend an der Realität der Situation geschult ist. Damit kommt vor allem eines zum Ausdruck: Eine immense Überforderung mit dem, was tatsächlich passiert.
Wer könnt es sich anmaßen darüber zu sprechen, was tatsächlich passiert? Wer kann die Situation richtig interpretieren und die richtigen Lösungen präsentieren? Weder Sebastian Kurz noch die „schönen Seelen“ können richtige Antworten geben. Die Situation ist komplexer und unsere Tendenz im Moment auf diese Komplexität mit komplexitätsmindernden Ideologien zu reagieren scheint mir genau der falsche Weg zu sein. Es ist verständlich, dass auf Überkomplexität mit Vereinfachung, Verengung und Zuspitzung reagiert wird. Förderlich für das Erkennen und Bewältigen der Situation ist es jedoch zweifellos nicht.
Ja, Sebastian Kurz hat sich verstiegen. Und hat möglicherweise ein falsches Bild von der Situation in und vor Australien gezeichnet. Ein Zyniker, Hetzer und Menschenfeind ist er deshalb aber noch lange nicht. Eher ist er ein „Opfer“ des beschriebenen zugespitzten und emotional aufgeladenen Diskurses bei dieser Thematik.
Die mediale Öffentlichkeit scheint in dieser Gegenüberstellung der Denkmuster gefangen zu sein. Derjenige, der laut darüber nachdenkt, wie Europa seine Grenze schützen könnte, wird a priori zum Hetzer. Dem gegenüber steht eine in sich heterogene Gruppierung, die sich nach wie vor unbedingt zur „Willkommenskultur“ und zu offenen Grenzen bekennt.
Man muss Sebastian Kurz nicht verteidigen. Aber man muss ihm attestieren, dass er es wagt nachzudenken und sich nicht vorrangig um die folgende diskursive Verortung kümmert. Er unternimmt zumindest den Versuch weitestgehend ideologiefrei und sachlich über die Situation und mögliche Bewältigungsstrategien nachzudenken. Das ist an sich schon ein Wert, den es gegen undifferenzierte Angriffe zu verteidigen gilt.
Wo liegt aber die Lösung für die derzeitige Situation? Ich weiß es nicht. Ich bin aber zutiefst davon überzeugt, dass wir den Dialog zwischen den Positionen, Weltanschauungen und Ideen um jeden Preis aufrechterhalten müssen. Damit wir zumindest einen Teil der Realität an sich erkennen können und uns nicht in ideologischen Hirngespinsten verheddern. Nur so gelangen wir früher oder später zu wirklichen Lösungen.

Titelbild: Frank Röth

Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.

1 Comment

  1. Re: Dialog zw. den Positionen bin ich ganz bei dir, aber das hier: „Er unternimmt zumindest den Versuch weitestgehend ideologiefrei und sachlich über die Situation und mögliche Bewältigungsstrategien nachzudenken.“ nehm ich ihm/dir nicht ab. Entweder er ist vorgeprescht, ohne sich über die Situation in Australien ausreichend informiert zu haben, oder er hat es lanciert, um als der große Zampano mit der Lösung dazustehen, wobei ihm die Umsetzbarkeit nicht so wichtig war, die Mühen der Ebene kommen später.

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