Das passiert, wenn wir die Stille im Alltag nicht mehr ertragen

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Ein Gespenst geht um in Tirol. Höchstwahrscheinlich auch anderswo. Es kündigt ein dystopisches Szenario an. Der sonntägliche Sauna-Besuch wird spätestens dann nicht mehr derselbe sein. Erst kürzlich ist es uns begegnet. In irgendeiner größeren Sauna, mitten in Tirol. Unfassbar, aber wahr.
John Cage entdeckte die Stille und machte die Abwesenheit ebendieser zu seinem primären ästhetischen Programm. In einem Raum, in dem eigentlich kein Geräusch sein dürfte, bemerkte er plötzlich, dass absolute Stille ein Mythos ist.
In der Stille hört man sich atmen oder hat ein leises Summen im Ohr. Wo es eigentlich still sein müsste, wird das bisher Ungehörte und Unhörbare plötzlich zentral und wahrnehmbar. Die Stille ist aber auch ein Ausgangspunkt. Vor allem in der Kunst. Der Schaffende, der die Stille als solche akzeptiert, wird der geräuschhaften Welt gegenüber sensibel und aufmerksam. Der Kunst- und Werkbegriff ändert sich. Die Differenz zwischen Werk und Welt schwindet. Ein ganz alltägliches Geräusch kann einem zum Kunstwerk werden.
Mit diesen Gedanken sitzt man sonntags zu zweit in der Sauna und freut sich auf einen entspannten und entspannenden Tag. Auf einen Zeitraum, in dem Ruhe einkehrt. Bereits der obligatorische anfängliche Kurzaufenthalt an der Bar um einen Smoothie zu trinken verunmöglicht das. Es läuft nicht der penetrante Sender „Ö-Einheitsbrei“, aber die Musikauswahl erinnert stark daran. Mit dem Unterschied, dass die Playlist sogar noch überschaubarer ist. Gefühlt laufen 2-3 Lieder im Endlos-Loop. Von der klanglichen und harmonischen Beschaffenheit ist die Musik geradezu provokant unauffällig und fällt mir dadurch gerade umso mehr unangenehm auf.
Dieser Eindruck setzt sich in der Sauna fort. Der Saunawart fordert zumindest 10 Minuten Stille ein. Man möge Gespräche doch einstellen. Es solle eine Zeit der Ruhe werden. In 10 Minuten sei der Aufguss ohnehin vorbei. Gespräche verstummen. Der Saunawart geht kurz nach draußen und schaltet Musik ein. „The Sound Of Silence“ läuft in beachtlicher Lautstärke. Weder in der Originalversion noch in der unsäglichen Version von Disturbed, sondern in einer Art Wellness-Version mit Vogelgezwitscher. Als Aufguss-Duft gibt es allerlei aus dem Wald.
Die Absurdität der Situation erhöht sich dadurch, dass wir in der Panorama-Sauna sitzen. Mit Blick auf Wald, Berge und Natur. Draußen würden also echte Vögel auf die Ruhesuchenden warten. Echter Wald-Duft. Und echte Stille. Stattdessen setzten wir auf Künstlichkeit und auf Echtheit zweiter Ordnung, die schon zerbröckelt, wenn man seine Nase einsetzt. Echt ist an diesem Duft wenig. Genauso wenig wie das Lied die Original-Version darstellt. Es wirkt so, als sei Echtheit nicht mehr zumutbar. Alles muss weichgespült, unaufdringlich und vermittelt sein.
Gerade die Auswahl und die Form dieses Liedes in obigem Kontext zeigt den Niedergang der Welt an, wie wir sie kennen. In Zukunft werden wir die Zumutung der Stille immer weniger ertragen. Denn die Stille ist per se nicht unterhaltsam und unterhaltend. Viel lieber als aktiv die Geräusche unserer Umwelt zu rezipieren lassen wir uns berieseln, einlullen und zur Passivität treiben. Viel lieber als einfach einmal nichts zu tun und keine produzierte Musik zu hören, werden wir uns in Zukunft sogar schon in der Sauna zu Tode amüsieren. Der Weg zu Blitz- und Nebeleffekten oder sich drehenden Sauna-Kugeln ist bereits geebnet.
Die Zukunft sieht wenig rosig aus. Pars pro toto lässt sich das Heraufziehen und baldige Eintreten einer Diktatur der Dauerberieselung und Dauer-Bespaßung anhand des Niederganges der Sauna-Kultur in Tirol ablesen. Wir müssen die Stille im Alltag also wieder ertragen lernen. Und bewusste Stille-Zonen einfordern. Jetzt, bevor es endgültig zu spät ist.

Titelbild: (c) Markus Angerer, flickr.com

Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.

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