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Erster Mai

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Jetzt war also wieder einmal Erster Mai, Tag der Arbeit, ein zweites Mal ohne Aufmarsch auf dem Ring in Wien. Corona. Nicht, dass mich der Ausfall sonderlich berührt hätte – ich hab’ mich niemals sehr dafür interessiert, und mitgegangen bin ich schon gar nicht, nirgends.

Allerdings war besagter Aufmarsch längst zu einem mehr oder minder hohlen Ritual verkommen: das Wacheln mit den roten Tüchern, das monotone „Freundschaft, Freundschaft“. Meine früheste persönliche Erinnerung stammt aus meiner Kindheit hier in Innsbruck, als wir vom Richardsweg hinunter schauten auf die Mühlauer Brücke (damals noch als Kettenbrücke bezeichnet, obwohl sie längst keine mehr war) und einen Zug von Arbeiterinnen und Arbeitern beobachteten, die mit roten Fahnen Richtung Rennweg zogen. Ein Frauenblock marschierte in unser Blickfeld.

„Krampfaderngschwader,“ ätzte meine Mutter.

Sie mochte sie nicht, „die Sozis“.

Und diese Einstellung übertrug sich auf mich. Nicht, dass sie irgendwie von Bedeutung gewesen wäre, denn Arbeiter, Sozialisten gab’s in unserem Bekanntenkreis ohnehin keine, nicht einmal am Gymnasium. Und wenn, dann verschwiegen sie ihre Herkunft peinlich. Hauptsach’, sie konnten gut Fußball spielen.

Man kann sich vielleicht vorstellen, was für einen Schock die Nationalratswahlen vom 1. März 1970 auslösten, als „die Sozis“ nicht nur eine – wenn auch relative – Mehrheit an Mandaten gewannen, sondern sogar die Regierung bildeten. Was folgte, das ist bekannt.

Es kann kein Zweifel bestehen, dass die geänderten Machtverhältnisse auch meine Weltsicht veränderten. Offenbar handelte es sich bei „den Sozis“ doch nicht um eine obskure Erscheinung. Man musste sich damit auseinandersetzen. Das umso mehr, als ihre soziale Weltsicht nicht bloß total neu war, sondern unleugbar etwas ansprach, was wir – die städtisch-bürgerliche Jugend – bis dahin übersehen hatten.

Das entscheidende Erlebnis für mich sollten allerdings meine Kommilitonen und Kommilitoninnen an der Anglistik und der Germanistik werden. So viele von denen kamen keineswegs aus der Stadt, vielmehr aus dem ländlichen Raum. Da tat sich eine komplett neue, unbekannte Welt auf! Nicht, dass diese Burschen und Mädchen – hauptsächlich handelte es sich um Mädchen, zumindest sprach ich vorwiegend mit solchen – nicht, dass diese Leute uns ihren Familienhintergrund aufs Butterbrot geschmiert hätten. Ich lernte vielmehr anhand aufgeschnappter Bemerkungen, anhand ihrer Einstellungen, ihrer Reaktionen.

„Das ist jetzt unser Beruf“, sagte mir eine Kollegin einmal dezidiert, als ich glaubte, mich mit meinem Geschick brüsten zu müssen, ohne viel Aufwand durch Prüfungen zu kommen. Das saß. Wahrscheinlich hat sie die Weiche gestellt hin zu meinem erfolgreichen Studienabschluss.

Diese Kollegen und Kolleginnen kamen allesamt von jenen Schulen, welche damals Mupäd hießen (Musisch-pädagogisches Realgymnasium, heute: BORG). Die brachten die Matura in den ländlichen Raum (genauer: in die Kleinstadt), wirkten somit als Hauptvehikel der so genannten Bildungsrevolution. Das Erstaunliche war, dass diese Oberstufen-Maturanten uns städtischen Gymnasiasten kaum nachstanden. Im Gegenteil: Wo’s ihnen vielleicht an unserer von den Eltern mittels Osmose vermittelten Bildung mangelte, da machten sie das Manko mehr als wett durch ihre Disziplin und durch ihren Fleiß (siehe oben). Ich lernte manche von ihnen für ihr Wissen, ihr Können, ihr systematisches Arbeiten zu bewundern.

Gewiss, die Mupäds waren keine Erfindung der Sozialisten, sie gingen weiter zurück, in ÖVP-Zeiten. Nun aber vermischte sich der gesellschaftliche Aufbruch mit dem sozialistischen Denken. Ja, wirklich: Die SPÖ bezeichnete sich damals als „sozialistisch“, wir hatten eine sozialistische Regierung, wir sagten sogar: Österreich ist sozialistisch. Wie’s uns dabei gegangen ist, das wissen wir.

Na ja, und so lernte ich auch, was es mit dem Ersten Mai auf sich hatte. Ich hörte oder las von der Geschichte der Arbeiterbewegung, von Solidarität und Gewerkschaft. Und ich stand sofort auf deren Seite. Selbst als snobistisches Bürgersöhnchen machte ich mir keinerlei Illusionen bezüglich der Schwäche eines lohnabhängigen Individuums, seiner Ausgeliefertheit, seiner Hilflosigkeit. Da half bloß Zusammenstehen.

Und so denke ich heute noch, ungeachtet aller Irrwege der SPÖ, ungeachtet ihres Abstiegs, ihres derzeitigen Tiefs. Wir werden sie, wir werden ihre Denkweise bald wieder brauchen, dringend sogar. Man kann bloß hoffen, dass sie sich rasch erfangt. Der nicht stattgefundene Aufmarsch zum Ersten Mai könnte symbolkräftig daran erinnern.

H. W. Valerian (Pseudonym), geboren um 1950. Lebte und arbeitete in und um Innsbruck. Studium der Anglistik/Amerikanistik und Germanistik. 35 Jahre Einsatz an der Kreidefront. War Freischaffender Schriftsteller und Journalist, unter anderem für die Gegenwart. Mehrere Bücher. Mehr Infos auf der persönlichen Website.

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