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Novemberblues 2022

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Früher hatte man den Novemberblues, wenn nach einem verregneten Sommer und einem viel zu kurzen warmen Meerurlaub die Nebel einfielen.

Und heuer? Nach monatelanger Gewöhnung an wohlige Wärme und italienisch anmutende Abendidyllen jammern wir über den plötzlichen Kälteeinbruch. Dabei ist doch eh November.

Aber nicht nur die Temperaturen machen uns frieren. Zu gemütlich hatten wir uns eingerichtet in scheinbar unverwundbarer Geborgenheit und dabei vergessen, dass es in der Menschheitsgeschichte vielleicht noch nie eine so lange friedliche Wohlstandsperiode gegeben hat, wie wir sie erleben durften. Krisen und Katastrophen fanden weit weg am Fernsehbildschirm statt, man schaltete sie einfach aus und legte sich ruhig schlafen. Bilder von Seuchenopfern kannte man bloß noch aus Mittelalterbüchern, und die in Grund und Boden gebombten europäischen Städte und Kathedralen waren nach mehr als sechs Jahrzehnten so fern und romantisch weichgezeichnet wie Ansichtskarten vom Forum Romanum. Auch Mangelwirtschaft gabs nur in Erinnerungen der Älteren, die mal einen Blick hinter den Eisernen Vorhang erhascht hatten, oder als Anekdote von Reisen in ferne Entwicklungsländer.  

Selbstverständlich konnte man über alles stets und sofort verfügen, was das Leben angenehm macht. Ängstlich die Nachrichten zu verfolgen, Heizholz zusammenzubetteln und Sicherheitsvorräte anzulegen, im Winter in Innenräumen einen dicken Pullover anzuziehen und in Wollsocken herumzulaufen, wie das zu Großmutters Zeiten üblich war, konnte sich keiner mehr vorstellen. Auf einen Handwerker zu warten, der dann seinerseits ewig auf einen Bestandteil warten muss, sowas gab es allenfalls in unterentwickelten Ländern. Oder tatsächlich überlegen zu müssen, welche Parteien und Personen man wählen muss, um nicht morgen in einer Diktatur aufzuwachen – wer hätte sich je träumen lassen, dass es wieder einmal dahin kommen könnte? Die allgemeine Glaubenswahrheit besagte schließlich, dass Zivilisation, Wohlstand und Demokratie stetig voranschreiten. Dass eines Tages alle Welt so leben würde wie wir. Und jetzt leben vielleicht bald wir wieder wie der Rest der Welt?

Die Novemberkälte, die uns alle so überrascht, hatten wir einfach aus dem Kalender und aus der Erinnerung gestrichen. Manche waren sogar felsenfest überzeugt, dass allein schon Ohrenschutz gegen Vorhersagen genügen würde, damit der Winter nie zurückkäme. Und solange Sommer herrschte, nützte Glauben ja auch wunderbar. Doch jetzt beklagen sie bitter, dass die Temperaturen fallen. Die Regierung, oder wer immer, möge, bitteschön, den November abschaffen!

Dabei gibt es nur den uralten, banalen Rat, sich der Jahreszeit entsprechend warm anzuziehen und enger zusammenzurücken. Das hat seit Urzeiten noch immer geholfen, kalte Zeiten zu überstehen.

Geboren 1954 in Lustenau. Studium der Anglistik und Germanistik in Innsbruck Innsbruck. Lebt in Sistrans. Inzwischen pensionierte Erwachsenenbildnerin. Tätig in der Flüchtlingsbetreuung. Mitglied bei der Grazer Autorinnen und Autorenversammlung Tirol, der IG Autorinnen Autoren Tirol und beim Vorarlberger AutorInnenverband. Bisher 13 Buchveröffentlichungen.

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