Brücken

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Weißt du noch, damals? Wir saßen auf knorrigen alten Schemeln, die bei der kleinsten Bewegung knackten wie ein beschuhter Tritt im taufrischen Unterholz eines Fichtenhains. Wir waren irgendwo in einer dieser verrauchten Spelunken, wo man auf Hygiene scheißt, und das, wenn auch offensichtlich verdünnte, Bier genießt. Der Plazeboeffekt hilft mit. Der geringe Preis tut sein Übriges. Wir genossen die vermeintliche Braukunst und du fingst an zu sprechen. An den Scheiben hörten wir das sanfte Klopfen der Regentropfen, welches, begleitet von der hinter den Bergkämmen versinkenden Sonne, der Kneipe einen ganz eigenen Teint verlieh. Aus den Boxen klang The Fragrance of Dark Coffee von Godot, während der Barmann mit einem schwarzgetupften Baumwolltuch in Gedanken versunken ein Weinglas polierte. Wir waren praktisch alleine, und dennoch setzten wir uns in eine Ecke. Du wolltest nicht in Hörweite der wenigen anwesenden Trinkerseelen verweilen.
Du erzähltest mir von Belanglosigkeiten. Von Anekdoten deiner Arbeit, von Treffen mit mir fremden Personen, doch zwischen all deinen Worten schwang ein Abgelenktsein mit, eine innere Zerstreuung. Du warst nicht mehr, wie du es zu sagen pflegtest,
unbeschwert, du warst abwesend, hattest mehr zu sagen – doch das tatst du nicht.
Wir gaben unsere nächste Bestellung ab. Du trankst wie gewöhnlich dein Aventinus, ich nahm ein kühles Helles, und langsam lockerten sich unsere Stimmbänder, unsere Zungen und wir begannen ernster zu werden. Irgendwann wolltest du dann von mir wissen, wohin ich gehen wolle, wohin es mich denn triebe, wenn all das einmal vorbei sei. Du hattest unlängst bemerkt, dass mich die Zukunft plagte, doch deiner Frage vermochte ich dennoch keine Antwort zu geben. Du warst enttäuscht, das wusste ich, und obwohl du es zu verbergen versuchtest, war es offensichtlich.
Wir waren für einen Moment still, bis du das Schweigen brachst. Und dann sagtest du etwas, was ich erst Jahre später verstehen sollte. Ich solle einfach gehen, wenn es mir zu viel werden sollte, empfahlst du mir. Ich solle einfach alles zurücklassen, ohne zurück zu blicken, ohne Abschiedsbrief, ohne Randnotiz. Einfach verschwinden. Und dafür sollte ich jetzt schon meinen Rucksack packen. Ich wollte deinen Gedankensprung nicht verstehen, und du sagtest nur, dass es diese Freiheit, diese Unbeschwertheit sei, die unser eigentliches Selbst preisgebe. Unser
eigentliches Selbst – verzeih, ich kannte Heidegger damals noch nicht, und darum hackte ich nach. Du sprachst dann von einer Verabschiedung aller Normen, von einem Abschalten des Denkens, einer absoluten Loslösung. Ich solle stets den gepackten Rucksack, von dem du schon öfter gesprochen hattest, zu Hause und ein wenig Geld auf der Seite haben. Einfach um gehen zu können.
Ich fragte dich, warum ich denn gehen solle, wofür ich den gepackten Rucksack denn brauche. Da musstest du schmunzeln. Du redetest dann davon, wie nichtig und flüchtig das Leben sei, davon dass es zu belanglos sei, um sich den Kopf über Dinge zu zerbrechen und zu gedrungen sei, um sich schuldig zu fühlen. Denn die Schuld sei es, so bemerktest du, die deine Unbeschwertheit eindämme, sie verhüte. Es sei wie beim Selbstmord, sagtest du, denn erst in ihm könne man unbeschwert und schuldlos sein. Der Sprung von einer Brücke sei lediglich die Vollendung deines Rucksackgedankens.
Ich wusste nicht, worauf du hinaus wolltest, warum du mich das alles wissen ließt. Ich wollte es aus dir herausquetschen, doch du lächeltest nur. Und dann appelliertest du an mich: „Wenn es dich jemals übermannen sollte, dann nimm bitte deinen Rucksack. Die Brücken zeigen sich dir am Weg.“

Du nahmst einen letzten Schluck und dann gingst du. Dann warst du fort. Warst kurz im Ausland, studiertest Wirtschaftsrecht, brachst jedoch verfrüht ab. Ich habe keine Ahnung, wo du bist, und befürchte, es leider doch zu wissen. Ich habe mir viel ausgemalt über die letzten zwei Jahre. Ich sah dich dann vertieft in einen Gedanken, stellte mir dich vor beim Schreiben, wie deine Feder sanft übers Blatt gleitet oder wie du irgendwo in einer dieser traditionellen schottischen Bars sitzt, mit einer Gruppe lauschender Leute, du dein Aventinus leerst und ihnen von dir erzählst. Ich sah dich auf einer asketischen Reise, jedoch nicht auf deiner.
Doch die Wahrheit ist eine andere, das weißt du, denn nun hast du deine Brücke gefunden. In tiefster Dunkelheit stehst du nun hier, die Fahnenmasten zittern unter den peitschenden Stößen des Windes, der Nebel unter der Brücke lichtet sich und du watest an das taunasse Geländer. Du bist allein. Du kletterst hinauf, hältst dich an einem Mast fest und blickst starr hinunter. Da unten ist nichts. Keine Schwärze, keine Dunkelheit, keine Nacht. Dort ist nichts. Doch genau das suchtest doch die ganze Zeit, nicht wahr? Das Nichts.
Du kommst nicht mehr zurück. Wie solltest du auch? Und doch müsste ich dir noch etwas sagen – mir ist nämlich etwas eingefallen. Aber das ist eine andere Geschichte. Vielleicht sitzen wir irgendwann wieder zusammen, und du weihst mich ein in dein Geheimnis. In das Geheimnis, was sich dir dort offenbarte, dort auf der Brücke. Ich möchte nicht so sein wie du, aber irgendwann zerbrechen wir wohl alle an den Gewichten der alten Normen. Und dann sehen wir uns wieder – in der Dämmerung, wenn der Wind die nebelverhangenen Brücken entblößt.

 

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