Matchcut: Jim Jarmuschs „Dead Man“

16 Minuten Lesedauer

Eine narrative Serpentine der spirituellen Wandlung

Der Film kurzum abgehandelt.

Im Jahr 2009 – vier Jahre nachdem sein subtil komödiantischer und gleichermaßen trister „Broken Flowers“ überraschend in Cannes mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde – kam mit „Limits of Control“ Jim Jarmuschs bis dato letztes Werk in die Kinos. Obwohl der Film zu unrecht sowohl von Kritikern verrissen wurde, als auch bei der breiten Masse durchfiel, stellt „Limits of Control“ durch seine meditative Atmosphäre, dem ritualisierenden Agieren der Charaktere und den äquivoken Dialogen eine Art Rückkehr Jarmuschs zu seiner poetischen, spirituellen Narration dar, welche besonders frühere Werke wie „Ghost Dog“ oder in gewisser Weise auch „Down by Law“ prägten und kennzeichneten. Doch die Quintessenz dessen, was man bei Jarmusch als Spiritualität im Film betiteln könnte, stellt zweifellos sein Meisterwerk „Dead Man“ aus dem Jahr 1995 dar – der Film Jarmuschs, der selbst heute noch aufgrund seiner Vielschichtigkeit, seinen zahlreichen Bezügen quer durch die Kunstgeschichte und seiner imponierenden Bildsprache am meisten rezensiert und diskutiert wird.

„Dead Man“ handelt von William Blake (wundervoll verkörpert von Johnny Depp), der 1876 eine Zugreise antritt, um von Cleveland in das kleine Städtchen „Machine“ zu gelangen, wo er erwartet, eine Stelle als Buchhalter einer ortsansässigen Fabrik zu bekommen. Bereits die Zugfahrt und Blakes Ankunft in Machine kommen einem Albtraum gleich: Umgeben von grotesken Gestalten, verwickelt in wirre Dialoge und beobachtet von abschätzigen Blicken bahnt sich Blake seinen Weg zur Fabrik. Dort angekommen wird er vom Besitzer der Fabrik, John Dickinson (Robert Mitchum, in einer seiner letzten Rollen), informiert, dass die Stelle bereits vergeben sei, und im Anschluss mit gezogener Flinte fortgejagt. Auf der Straße lernt er Thel (Mili Avital) kennen, die selbst angefertigte Rosen aus Papier verkauft, jedoch keine Abnehmer findet und nur auf die rohe Gewalt eines Betrunkenen trifft, der sie auf die Straße stößt. Blake geht ihr helfend zur Hand, woraufhin sich Thel kurzerhand entschließt, ihn mit zu sich Nachhause zu nehmen, um mit ihm zu schlafen. Die getraute Zweisamkeit wird gestört, als Thels Ex-Verlobter Charlie Dickinson (Gabriel Byrne) – der Sohn des Fabrikbesitzers – Thels Wohnung betritt, auf Blake das Feuer eröffnet, jedoch nur Thel tödlich trifft, die sich schützend vor Blake wirft. Im Gegenzug erschießt Blake den jungen Dickinson, kann jedoch auch nur verletzt flüchten, da die Kugel, die Thel durchdrungen hat, sich nun nahe Blakes Herzens in dessen Körper befindet. Er tritt die Flucht an, verliert jedoch aufgrund seiner Verletzung alsbald das Bewusstsein. Während Nobody (Gary Farmer), ein indianischer Außenseiter, Blake findet und beschließt, ihm zu helfen, heuert John Dickinson drei Auftragskiller (u. a. Cole Wilson) an, um den Mörder seines Sohnes zu finden und ihm zu bringen. Egal, ob tot oder lebendig.

Zu Beginn wirkt Jarmuschs „Dead Man“ wie ein gewöhnlicher Western, in dem ein naiver Fremder, sozusagen ein Greenhorn, eine ferne Stadt betritt, und durch eine Verkettung von Umständen als Gejagter fliehen muss. Doch wie Roman Mauer bereits festgestellt hat, ist es Jarmusch nur in der Porträtierung der Ureinwohnerstämme und der Beziehung zwischen Blake und Nobody wirklich Ernst, „in der parallelen Welt der Killer, Marschalls und Trapper kann er das Genre satirisch überspitzen“1. Bereits während des Gesprächs zwischen dem alten Dickinson und den drei Auftragsmördern lässt sich spüren, wie Jarmusch jene Charaktere bewusst als extravagante Gegenspieler charakterisiert. Sie sitzen unruhig in Dickinsons Warteraum, können die Hände nicht von ihren Waffen nehmen, während Dickinson seinen Auftrag, Blake aufzuspüren, aus unerfindlichen Gründen dem ausgestopften Bären verkündet anstatt den Killern. Jarmusch skizziert hier zwei divergente Welten, die sich langsam einander anzunähern scheinen, und sich wiederholt in grotesken Szenarien treffen.

Wie William Blake ist auch Nobody ein Außenseiter, ein Einzelgänger. Der Indianer versucht dem verwundeten Blake zu helfen, er schafft es jedoch nicht, die Kugel aus dessen Körper zu entfernen. Dennoch nimmt er Blake mit, da er sich verpflichtet fühlt, dem Sterbenden auf seinem Weg zu begleiten. An einer Stelle des Films wendet er sich zu Blake und fragt: „Did you kill the white man who killed you?“ Blake verneint tot zu sein, doch Nobody lässt sich von seiner Mission, ihn durch den „Mirror at the place where the sea meets the sky“ zu geleiten, damit seine Seele dorthin zurückzukehren vermag, wo sie einst hergekommen ist, nicht abbringen. Als Nobody Blakes Namen erfährt, hält er ihn für eine Reinkarnation der Seele des Dichters und Malers William Blake (1757-1827), dessen Schaffen Nobody während dessen Zeit als Jahrmarktattraktion in England zu schätzen gelernt hatte. Wiederholt zitiert er dessen Werke und lässt sich von seiner Mission, seinen toten Begleiter auf seinem Weg ins Jenseits zu begleiten, nicht abbringen. Der Titel des Filmes bezieht sich insofern auf den verwundeten Blake (welcher innerhalb dieser Rezension von nun an „Bill Blake“ genannt wird, um Verwechslungen zu vermeiden), welcher seine letzte Reise zu bestehen hat. Bereits während des Vorspannes zitiert Jarmusch Henri Michaux und dessen Fragment „The Night of the Bulgarians“ mit dem Satz „It’s preferable not to travel with a dead man“. In besagtem Fragment reisen der Hauptcharakter Plume und ein namenloser Freund in einem Abteil (eines falschen Zuges), welches sie mit fünf Bulgaren teilen. Sie beschließen, die fünf zu erschießen, da sie ihnen nicht trauen können. Um nicht erwischt zu werden, lehnen sie die Leichen so aneinander, dass sie aussehen, als ob sie schliefen. An dieser Stelle kommt Plume zum Schluss, dass es vorzuziehen ist, ohne Tote zu reisen, da diese nur Probleme verursachen würden2. In besagter Geschichte finden sich viele Parallelen zu Bill Blakes Geschichte: Wie die beiden Hauptfiguren in Michaux‘ Fragment reist auch der Dead Man Bill Blake zu Beginn des Films in einem Zug, welcher ihn praktisch in den Tod schickt. Bereits während dieser Zugfahrt führt er ein seltsames Gespräch mit dem Heizer (Crispin Glover), welcher ihn an eine Fahrt in einem Boot zu erinnern versucht, doch Bill Blake scheint irritiert zu sein, und schenkt den Aussagen des seltsamen Fremden kaum Beachtung. Auch als dieser die Haltestelle, an der Bill Blake aussteigen muss, als „the end of the line“ bezeichnet, wird ihm nicht bewusst, was bevorsteht, während wir im Laufe des Films begreifen, dass Bill Blakes Leben dort tatsächlich ein Ende nehmen wird.

Wie Mauer bemerkt, zählten zu „den Zentralthemen des Dichters William Blake […] die Spannung zwischen […] Unschuld und Erfahrung sowie […] Rationalismus und Intuition“3. Genau diese Themen kennzeichnen auch Jarmuschs „Dead Man“ beziehungsweise die Hauptfigur Bill Blake. Im Aufeinandertreffen von Blake und Thel (welche ebenfalls eine Anspielung auf die Geschichte des Dichters und sein Gedicht „The Book of Thel“4 ist), in der Freundschaft zwischen Nobody und Blake und generell in der spirituellen Wandlung Blakes: überall finden sich besagte Motive. Da Bill Blake an sein Dasein als Reinkarnation des Dichters nicht glauben will, hilft ihm Nobody, seine Unschuld zu überwinden. Er reicht ihm eine Waffe und erklärt: „You will learn to speak through it, and your poetry will now be written with blood.“ Und wahrhaftig greift Bill Blake zur Waffe, in den Szenen in denen sich die beiden divergenten Welten zu treffen scheinen, wie zum Beispiel in der Szene in der Blake die Trapper in ihrem Lager aus Notwehr erschießt. Seine Reise mit Nobody setzt sich fort, der Indianer lehrt ihn, auf seine Intuition zu hören („The eagle never lost so much time as when he submitted to learn from the crow.“5) und verlässt ihn schließlich doch, ohne einen Grund zu nennen, warum.

Das Kopfgeld, das auf Bill Blake ausgesetzt ist, lockt nun andere Interessenten, wie die beiden Marshalls, die Blake alsbald am Anstieg eines Berges aufspüren. Ihre Frage, ob er William Blake sei, bejaht Blake und fragt die beiden, ob sie vertraut seien mit seinen Gedichten. Kurz darauf erschießt er sie. Hier, an diesem Punkt vollzieht der Film eine Kehrtwende. Der „Mirror at the place where the sea meets the sky“ besteht auch im narrativen Sinne, denn an dieser Stelle von „Dead Man“ spiegelt sich die gesamte Geschichte des Films. Blake trifft Nobody erneut, das Reiten durch die Wälder findet sich ebenfalls wieder und letztlich finden sich jeder Schuss und die Reise zu Beginn des Films auch am Ende wieder; jede Handlung, jedes Erkunden neuer Orte findet sich in einer äquivalenten Einstellung symbolisch wieder. Der Film vollzieht eine Art Serpentine, die ihren Drehpunkt in der Akzeptanz der Hauptfigur findet, dass er der Dichter William Blake ist, dass sich seine Seele auf dem Weg ins Jenseits befindet. Und wie der Heizer zu Beginn des Filmes schon ankündigt und auch Nobody seinem Gefährten verspricht, endet „Dead Man“ dort, „wo noch kein Western war: [im] Meer“.6

Wie üblich in Jarmuschs poetischeren Filmen gewinnt Sprache eine alternierende Bedeutung, da sie nicht mehr als kommunikatives Mittel zum Zweck dient, sondern einzelne Figuren zu sinnierenden Sprachrohren werden lässt – man denke nur an den überspitzt extrovertierten Verbrecher Roberto, wundervoll gespielt von Roberto Benigni, der in „Down by Law“ aus dem Jahr 1986 seine Zellengenossen zuerst in den Wahnsinn treibt, sich jedoch bald als Geschenk des Himmels entpuppt. Auch der introvertierte Auftragskiller in „Ghost Dog“, gespielt von Forest Whitaker, ist ein äußerst ambivalenter Charakter, der neben Gewaltbereitschaft auch Seelenruhe und Poesie verkörpert. Im Eismann Raymond (Isaach De Bankolé), welcher nur Französisch spricht und versteht, findet er trotz fehlendem verbalen Austausch seinen besten Freund. Ebenso finden wir diese Eigenschaften bei Nobody, der William Blake zitierend seinem Genossen das Morden lernt, und trotz weniger Worte eine innige Beziehung zu seinem sterbenden Genossen aufbaut.

Das interpretative Spektrum, dass um „Dead Man“ über die Jahre hervorgetreten ist, zeigt, wie bemerkenswert vielschichtig und komplex Jarmuschs Film tatsächlich ist. Mauer betrachtet den Film aus zahlreichen Blickwinkeln, beleuchtet zum einen die Parallelen zwischen dem realen William Blake und dem fiktiven7 und bemerkt auch deutlich kafkaeske Motive in Jarmuschs Film8. Suárez betont besonders die symbolische Bedeutung des Todes in Jarmuschs „Dead Man“9, während Berg besonders die visuelle Konstruktion des Films genauer unter die Lupe nimmt, und zum Schluss kommt:

„Blake finds salvation through acceptation of the other. Here the afterlife replicates the world of the living, as it is but a mirror of how we live.“10

Fest steht, dass „Dead Man“ einerseits einer der kryptischsten Filme Jim Jarmuschs, doch in seiner Symbolik auch ein hypnotischer, spiritueller und poetischer Film ist. Es lässt sich nur hoffen, dass – wie „Dead Man“ selbst – auch Jarmusch mit „Limits of Control“ eine Kehrtwende eingeschlagen hat, um zurückzukehren. Zurück zu Filmen, die tiefer gehen als seine Episodenfilme. Zu Filmen, die symbolischer sind, Filme, die selbst 17 Jahre nach der Premiere noch hitzige Diskussionen anregen und das Publikum faszinieren. Vielleicht hat auch Jarmusch erkannt, wer er wirklich ist, wo sich seine Wurzeln befinden, sodass er zurückzukehren vermag, um Meisterwerke wie „Dead Man“ erneut auf Zelluloid zu bannen.

Fußnoten

1 Mauer, R.: Jim Jarmusch – Filme zum anderen Amerika, S. 188
2 vgl. Suárez, J. A.: Jim Jarmusch, S. 107
3 Mauer, R.: Jim Jarmusch – Filme zum anderen Amerika, S. 208

4 Blake, W.: The complete writings of William Blake – with all the variant readings, S. 127

5 Blake, W.: The complete writings of William Blake – with all the variant readings, S. 151

6 Kilb, A.: William Blake muß sterben
7 vgl. Mauer, R.: Jim Jarmusch – Filme zum anderen Amerika, S. 208-212 und 215-218
8 vgl. Mauer, R.: Jim Jarmusch – Filme zum anderen Amerika, S. 213-215
9 vgl. Suárez, J. A.: Jim Jarmusch, S. 111

10 Berg, B.: Unveiling the spiritual nature of Dead Man

Literaturverzeichnis

BERG, B.: Unveiling the spiritual nature of Dead Man, 2001, siehe: http://www.cinescapade.com/feature_texts/dead_man.htm (Seitenaufruf: 3. 3. 2012: 16:57)

BLAKE, W.: The complete writings of William Blake – with all the variant readings, hrsg. von Geoffrey Keynes, Nonesuch Press, London, 1952, 936 Seiten

KILB, A.: William Blake muß sterben, Die Zeit, 5. 1. 1996, siehe: http://www.zeit.de/1996/02/William_Blake_muss_sterben/seite-1 (Seitenaufruf: 3. 3. 2012: 16:19)
MAUER, R.: Jim Jarmusch – Filme zum anderen Amerika, Ventil Verlag KG, Mainz, 2006, 414 Seiten
SUÀREZ, J. A.: Jim Jarmusch, University of Illinois Press, Urbana and Chicago, 2007, 196 Seiten
 
 

3 Comments

    • Nachvollziehbar. 😉 Der Soundtrack ist tatsächlich ein außergewöhnliches Nebendetail, wobei ich mich hier ja fast unbeliebt machen muss (und die 5-10 Minuten womöglich verlängert werden), denn in gewisser Weise wirkt mir der Soundtrack etwas zu repetitiv. Man kann natürlich argumentieren, dass ein Morricone ein wiederkehrendes Thema in seinen Arbeiten auch hegte und pflegte, aber in „Dead Man“ wird es mir zu wenig modifiziert. Es scheint sich nur zu wiederholen.
      Aber er trägt stellenweise zweifellos zur Atmosphäre des Films bei, am deutlichsten wohl bei Bill Blakes Ankunft in Machine.

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