(c) Walter Klier

Innerer Monolog auf dem Dach

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Heute kommt die Sonne wieder, und es taut. Der ganze Wald gluckst, knackst, platscht, dazwischen klopft ein Specht, und die kleinen Vögel singen den Frühling herbei. In Neuschnee ausgedrückt hat es in den letzten zehn Tagen einen Meter geschneit. Auch wenn das wegen dem warmen Boden laufend zusammengegangen ist, bleiben gute 30 cm übrig, recht solide 30 cm. Da braucht es ein paar ordentlich warme Tage, bis das weg ist. Vormittags wird die Photovoltaik freigeschaufelt. Bei der leichten Tau-Feuchtigkeit ist der Schnee angenehmer, nämlich weniger klebrig als der Hochwinter-Pulver. Bei jeder Schaufel Schnee, die unten auf dem Boden neben dem Haus landet oder nebenan auf dem flacheren Teil des Daches, stelle ich mir vor, wie der Stromertrag schon wieder um ein oder vier Watt zunimmt, und was das über den Tag gerechnet für eine Ersparnis abgibt, verglichen mit dem Bezug des „normalen“ Stroms aus dem E-Werk. Neben allem sonstigen Unsinn, der einem durch das Gehirn, oder den Geist, oder das Bewußtsein zieht, was immer das sein mag, wo das durchzieht, sitzt da immer ein kleiner Sparefroh.

Er paßt auf und hält mich dazu an, Ein- oder Zwei-Cent-Münzen vom matschig-dreckigen Winterstraßenbelag zu klauben oder die Preise von Pelati-Dosen im Regal zu vergleichen und dann die um 57 Cent statt der um 59 Cent zu nehmen. Alles ziemlich kindisch. Dazu kommt der Spruch aus den Kindheitstagen angeschwirrt: „Sparen mußt du von den Reichen lernen“, zusammen mit irgendwelchen Geschichten von Leuten mit richtig viel Geld, die irgendjemand kannte oder von denen man gehört hatte. Die sitzen den Winter über in kaum geheizten Räumen, geben im Gasthaus kein Trinkgeld, keinem Bettler einen Groschen und dergleichen. Seit ich dem J. aus Nigeria, der vor dem M-Preis mit seinem Stoß „Zwanziger“ steht, selbigen nicht mehr abkaufe, denke ich auch daran (denkt der Sparefroh in mir), daß ich mir so jedesmal die 2 Euro, mittlerweile (inklusive Trinkgeld) 3 Euro erspare. Es ist aber nicht deswegen, daß ich ihm nichts mehr gebe, sondern weil er, mit heftiger Unterstützung des halben Dorfes, auch unserer, nicht nur schließlich Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis erhielt, sondern auch bald einen Job angeboten bekam, diesen annahm und nach einiger Zeit wieder sausen ließ und stattdessen weiter die Obdachlosenzeitung verkaufte, anstatt an diese Stelle einen anderen, Bedürftigeren zu lassen. Solche läßt er nur zu irgendwelchen blöden Zeiten, Montag nachmittags oder in der Früh, wenn sowieso kein Betrieb ist. Und dazu erzählt er auch denen, die es nicht hören möchten, daß hier im Land alle Rassisten sind und er es deshalb zu nichts bringt. Daß die guten Plätze immer von selben Platzhirschen besetzt sind, kann man allenthalben beobachten, aber man soll da nichts sagen, weil es ausländerfeindlich ist, und sich stattdessen besser über alte weiße Männer aufpudeln, wie man selber einer ist, Rassisten durch Geburt, die in der guten alten Zeit in den Kolonien gehaust haben, die Österreich nie hatte. Aber hätte haben können, und dann hätten unsere Opas oder Uropas sich aufgeführt!

Danach denkt man noch daran, wie man vor sechs Jahren, als wir uns unser privates Sonnen-E-Werk für das Dach kauften, den Fachmann fragte, ob bei der Neigung der Paneele der Schnee mehr oder weniger von selber abrutsche. Ja, ja, der rutscht schon ab, sagte der Fachmann. Faktisch tut er das so gut wie nie, auch nicht im steilen Dachabschnitt. Und, fragten wir weiter, muß man diese Glastafeln gelegentlich putzen? Hierüber waren die expertlichen Meinungen geteilt. Jetzt, nach schneereichem Winter mit mindestens fünf Runden Abschöpfen, dürften sie ziemlich sauber sein.

Und dann fallen mir noch die Fotos ein, die unser Vater in den 50er Jahren von seinen Expeditionen nach Peru mitgebracht hatte, und die als Generalprobe für seine Diavorträge, mit denen er etwas Geld verdiente, zunächst uns vorgeführt wurden. Auch später gab es den Brauch weiterhin, weil er schon als fester Bestandteil des Familienlebens galt, der in der Kindersprache „Bildelen schauen“ hieß. Dort in den Anden hatten die Burschen einige tropische Gletscherberge erstiegen, und auf denen lag, oben auf dem steilen Grat zum Gipfel, so ziemlich das gleiche morsche Windgebäck aus Schnee wie jetzt hier auf dem Dach, das die Sonne zu heizen anfängt, oder nebenan auf den Bäumen, von denen mit größter Seelenruhe immer noch ein dicker Batzen hier und dort herunterklatscht. Über solches Windgebäck mußten sie dann drüber, ohne daß gleich der halbe Grat abbrach und sie mit der ganzen Chose tausend oder zweitausend Meter Richtung Tal rauschten.

Und was man halt so denkt, innerer Monolog, oder? Wurde früher einmal als letzter Schrei angesehen, in literarischer Hinsicht. Mittlerweile weniger.

Es wird warm und wärmer auf dem Dach, ich bin fertig und möchte noch einen besonders dicken Brocken abwarten, bis er von seiner Fichte platscht. Dann wird das langweilig, er kann besser warten als ich, zumal die Sonne so heizt und blendet, daß man richtig müde davon wird. Ich steige wieder hinunter auf den ebenen Boden. Es brennt in den Augen wie auf einer Frühjahrs-Schitour, wo einem der Sulzschnee schon um die Ohren fliegt. Wenn man nicht bald ins Haus geht, hat man einen Sonnenbrand.

Mittags in der Nachrichtensendung können es unsere Journalisten gar nicht fassen, wie die Regierung sich nicht dazu durchringen kann, das Volk, den großen Lümmel, wiederum einzusperren. Letztes Jahr um die Zeit, das war noch ein Ding, da taten sie das, wozu sie gewählt waren: regieren. Regieren heißt also einsperren. Direkt traurig ist der rasende Reporter über diesen Niedergang. Offenbar haben irgendwelche bockigen Landeshauptleute den Karlsson vom Dach gemacht und gesagt: Sie machen nicht mehr mit. Das werden wir ihnen heimzahlen und den Föderalismus ordentlich schlechtmachen, dann haben sie den Salat.

Da lobe ich mir die Vereinigten Staaten, die werden neuerdings gleich ganz ohne Präsident regiert, nachdem es bisher vielleicht etwas zu viel Präsident gewesen ist. Urplötzlich gibt es keine Präsidentenwitze mehr aus Amerika. Ich bin absolut dagegen, sich über einen alten, kranken Mann lustig zu machen, warum man ihn allerdings zuerst wählt und dann klammheimlich ins Kammerl sperren muß, weil er seine sieben Zwetschken nicht mehr so recht beisammen hat, da könnte zumindest jemand nachfragen, ganz höflich und ohne Witz. Als er, vielleicht wahrheitsgemäß, aber sicher gegen diplomatische Sitten und Gebräuche, Putin einen „Killer“ nannte, wünschte ihm dieser Gesundheit. Der KGB (oder wie der Verein heute heißt) wird sich ebenso wie das chinesische Pendant gewiß genau über die präsidentliche Gesundheit auf dem laufenden halten, bei uns im freien Westen bleibt es einer doch eher randständigen Publizistik vorbehalten, zwischendurch ein paar derartige Geschichten unters Volk zu bringen.

Gegen Abend färbt sich im letzten Licht der tief verschneite Glungezer rosarot. Es ist dieses schöne, unvergleichliche, ganz leicht gelbstichige Rosa, das nur die Abendsonne auf dem Schnee gegenüber zusammenbringt.

Walter Klier, geb. 1955 in Innsbruck, lebt in Innsbruck und Rum. Schriftsteller und Maler.
Belletristik, Essays, Literaturkritik, Übersetzungen, Sachbücher. Mitherausgeber der Zeitschrift "Gegenwart" (1989—1997, mit Stefanie Holzer). Kommentare für die Tiroler Tageszeitung 2002–2019.
Zahlreiche Buchveröffentlichungen, u.a.: Grüne Zeiten. Roman (1998/Taschenbuch 2014), Leutnant Pepi zieht in den Krieg. Das Tagebuch des Josef Prochaska. Roman, 2008. Taschenbuch 2014). Der längste Sommer. Eine Erinnerung. 2013.
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