Hochaster Alm (c) Walter Klier

Aus dem Tagebuch eines Waldbewohners (1)

8 Minuten Lesedauer

Montag.

Affentheater, achte Woche. Am Morgen befinde ich, daß die dafür vorgesehenen Räumlichkeiten endgültig vor Müll überquellen und daher ein Ausflug in die Rossau nötig wird. Die Homepage der Innsbrucker Kommunalbetriebe hat mir mitgeteilt, daß der Recyclinghof, wie diese Anstalt so neudeutsch heißt, geöffnet ist, und zwar, im Gegensatz zu den letzten Wochen, wieder zu den üblichen Zeiten, also von 8 bis 17 Uhr. Allerdings gelten die inzwischen schon gewöhnlichen Sicherheitsvorschriften. Als ich mit meinem Auto voll gemischter Recyclingware ankomme, steht die Autoschlange zurück bis an die Ampel. Wenn das so weiterstaut, droht hier der früher charmant so genannte Hakenkreuzstau. Viele Leute haben also das Wort „Normalbetrieb“ nicht richtig eingeschätzt, denn normal ist offenbar gar nichts, und sind mit ihren kleinen oder größeren Vorräten an Wegzuwerfendem hier eingeritten. Jetzt stehen wir erst einmal. Ich stehe mich eine gute halbe Stunde lang nach vorn bis zur Einfahrt. Dort halten zwei Bedienstete mit Maskierung Wacht. Der eine verteilt Zettel, worauf die „Hygienevorschriften“ nochmals zur Kenntnis gebracht werden, und fragt mich nach meiner Maske. Ich weise sie vor, er sagt, Ja, drinnen dann bitte aufsetzen, ich frage ihn, Ist es drinnen mords gefährlich? Da muß er immerhin ein bißchen lachen, hinter seiner medizinisch aussehenden Keim-Sammelstelle, oder, wie Dirk Maxeiner auf der „Achse des Guten“ schreibt, „mit einer bescheuerten Maske, von der ich weiß, dass sie rein gar nichts bringt, außer einer beschlagenen Brille und einer Bakteriendichte vor dem Mund wie in einem feuchten Putzlumpen. Ich schaue mir also zu, wie ich gezwungenermaßen etwas tue, von dem ich weiß, dass es für mich und die anderen vollkommen sinnlos und obendrein ungesund ist.“ Besser kann man es kaum sagen.

Drinnen ist mehr Luft um einen herum als sonst, die anderen Luftverbraucher stehen ja draußen und lassen ihre Motoren laufen, wenn sie sich der Einfahrt soweit genähert haben, daß man absehen kann, wie lang es noch dauert und man nicht dauernd neu starten will. So werden die zwei bedauernswerten Mitarbeiter des Recyclinghofes stundenlang einträchtig zugenebelt, während sie sich innen mit Hilfe ihrer Maske feucht halten. Es ist eine der gut sichtbaren, aber wenig erwähnten Eigenheiten dieser Zeit, daß die Leute vorne dran, die Kassierinnen und überhaupt alle Handelsangestellten in vorderster Linie, bedenkenlos in die Pfanne gehauen werden, während der nette Minister R. A. das Ausgehverbot so versteht, daß er übers Wochenende kurz von Wien ins heimatliche Mühlviertel preschen kann, wenn auch „nur selten“ (Der Standard, 18.4.).

Der Recyclingbetrieb geht soweit normal vor sich, die Abstände zwischen den Personen sind ganz von selber groß genug, kaum je kommt mir jemand näher als drei, vier Meter. Außerdem sind wir im Freien, es ist kühl und es weht ein frisches Lüftchen. Frischer geht Luft gar nicht. Man kann sich also wieder einmal fragen, zum tausendsten Mal, seit sie das Wandern im Wald verboten haben, wer da unter den Bestimmern noch ganz bei Trost ist. „Bestimmer“ hieß das bei unseren Kindern, als sie noch in der Kindergarten gingen. „Bist du der Bestimmer?“

Mittagsjournal. Ein Institut hat für Österreich eine deutlich niedrigere Dunkelziffer als bisher ausgerechnet: ungefär 10.000 Menschen. Der zuständige Minister hält das für „erfreulich“. Heißt das aber nicht, daß die befürchtete „zweite Welle“ viel gewaltiger ausfallen wird als die erste, die im Endeffekt recht bescheiden ausfiel? Da wäre dann jetzt im Land noch niemand immun. Aber bedeutet das wiederum nicht, daß dieses Dingerchen, vor dem wir uns kollektiv in die Hosen machen, lang nicht so ansteckend ist, wie bisher behauptet wurde? Sonst hätten sich bei der „ersten Welle“ ja viel mehr Leute anstecken müssen?

Am 10.4. waren es fast 30.000, dunkelziffermäßig. „Anfang April“ errechnete man „zwischen 10.200 und 67.400 Personen“. Das ist nebenbei bemerkt eine Angabe, als würde der Wetterbericht für den kommenden Tag Temperaturen von 5 bis 33 Grad vorhersagen. Irgendwo, ich finde die Stelle im Moment nicht mehr, war von 80.000 die Rede. Was rechnen die da eigentlich aus, und wir starren wie das dümmste vorstellbare Zirkuspublikum auf diese Rechenkünste? Aber schließlich war zu Anfang, wir erinnern uns, von Kanzlerseite davon die Rede, es werde „bald die Situation kommen, dass jeder jemanden kennt, der an dem Coronavirus gestorben ist“. Bisher kenne ich niemanden, meine unrepräsentative Umfrage am Rumer Bauernmarkt hat ergeben, daß man dort zwei Rumer Bürger kennt, die erkrankt waren, aber wieder „pumperlgesund“ sind. Sonst gibt es noch eine wiener Bekannte, die auch zwei so geartete Fälle kennt.

Aber wie dem auch sei, eines ist inzwischen klar: die Erzeugung eines Maximums an Angst hat bestens funktioniert. Jetzt haben alle Angst, man braucht nur die Leute beim Einkaufen zu betrachten, wie sie in ihre nassen Putzfetzen hineinatmen und sich fürchten. Ich habe auch Angst, aber vor etwas anderem. Nämlich davor, daß halb Tirol, von wegen der Totalabwürgung des Fremdenverkehrs, schlicht und einfach pleite geht. Das scheint, offiziell, niemanden im Lande zu kümmern. Unsere Chefs in Wien kümmert es so sehr, wie die gebirgigen westlichen Landesteile sie immer schon gekümmert haben: einen Dreck. Die Krankheit mag gefährlich gewesen sein, die Kur wird eines mit Sicherheit: tödlich. Diese Prognose kann man nun schon wagen, ohne sich allzu sehr aus dem Fenster zu lehnen.

Eine Meldung aus Schweden. Dort haben sie, wie man weiß, zu viel gelinderen Mitteln gegriffen, und halten nun seit längerem bei einer Reproduktionszahl unter 1. Das hat man uns als das erstrebenwerte Ziel hingestellt, solange es nicht erreicht war. Nun hören wir von „7000 Toten in Brasilien“. Dabei vergißt man in der Eile dazuzusagen, daß es sich hiebei um ein Land mit 200 Millionen Einwohnern handelt, mit einem, vermute ich, etwas weniger ausgebauten Gesundheitssystem, als wir es haben.

Oben am Waldrand fängt der Holler an zu blühen. Im Garten (in den drei vor der Gartenmauer gelegenen Miniaturbeeten) kommen die Erdäpfelpflanzen zum Vorschein. Gegen Abend, so um 6 Uhr herum, höre ich heuer zum erstenmal den Kuckuck, zweimal hintereinander: „Kuckuck. Kuckuck.“ Wie jedes Jahr habe ich kein Geld im Sack, weil ich wie jedes Jahr im Arbeitsgewand vor dem Haus stehe und mir also diese Chance schon wieder durch die Lappen geht.

Walter Klier, geb. 1955 in Innsbruck, lebt in Innsbruck und Rum. Schriftsteller und Maler.
Belletristik, Essays, Literaturkritik, Übersetzungen, Sachbücher. Mitherausgeber der Zeitschrift "Gegenwart" (1989—1997, mit Stefanie Holzer). Kommentare für die Tiroler Tageszeitung 2002–2019.
Zahlreiche Buchveröffentlichungen, u.a.: Grüne Zeiten. Roman (1998/Taschenbuch 2014), Leutnant Pepi zieht in den Krieg. Das Tagebuch des Josef Prochaska. Roman, 2008. Taschenbuch 2014). Der längste Sommer. Eine Erinnerung. 2013.
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2 Comments

  1. Ich bin ein Wechselgewinnler der neuen Glossenplazierung von Walter Klier, denn die Tiroler Tageszeitung stak nie in meinem Berliner Briefkasten, aber das Alpenfeuilleton schau ich mir jetzt jeden Freitag an. Bei der Gelegenheit finde ich auch noch einiges andere fürs Lesevergnügen. Große Freude!

  2. Danke Herr Klier, dass sie mich aufmerksam gemacht haben, wo ich künftig ihre Berichte finde.
    Ich kann nicht verstehen, dass sich die Tiroler Tageszeitung solch derart fein verfasste Beitäge, mit leichter Kritik oder Ironie, entgehen lässt und ihren Leserinnen und Lesern vorenthält.
    Weiterhin alles Gute

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