Spukhafte Fernwirkung: Tanzt, sonst seid ihr verloren

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7 Minuten Lesedauer

Was ist Tanz? Für mich ein äußerst flüchtiges Medium, das von seiner Flüchtigkeit und Vergänglichkeit lebt. Den Tanz zu beschreiben ist schwierig, fast unmöglich. Zumindest für mich. Ich bin von der Präsenz der Tänzerinnen und Tänzer zu eingenommen. Ich versuche die tanzenden, sich bewegenden Körper zu „lesen“, sie zu interpretieren. Worauf nehmen sie Bezug, welche Tanzelemente benutzen und inkorporieren sie? Welche Transformationen erfährt das Repertoire des Tanzes schon einmal allein dadurch, dass es von dieser ganz bestimmten, konkreten und jetzt im Raum anwesenden Person vergegenwärtigt und aktualisiert wird?
In den Momenten dann in denen ich glaube, mit meinem rudimentären Wissen der Tanzgeschichte etwas beschreiben und fassen zu können ist es bereits die nächste Bewegung, die meine Gewissheiten verwirrt. Ich bin wieder zurückgeworfen auf die Situation, auf die Gegenwart des Tanzes und des Tanzendes. Ich verstehe gar nichts mehr und muss schlicht und einfach genießen, das technische und tänzerische Können bewundern. Und dazu gab es bei „Spukhafte Fernwirkung“, dem ich letzten Samstag im Vierundeinzig beiwohnen durfte, reichlich Gelegenheit.
Tanz lässt sich unter Umständen mit zwei Parameter ein wenig fassen: Raum und Bewegung. Wie bewegen sich die TänzerInnen im Raum? Was geschieht mit dem Raum? Das umfasst sowohl die Perspektive der Tänzerinnen und Tänzer als auch die Perspektive des Publikums. Wird mit dem Raum gespielt? Wenn ja, wie? Ein zweiter Aspekt ist der Umgang mit der Tanzgeschichte, mit den Formeln die sich daraus ableiten lassen, mit den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, die sich daraus ergeben. Der Tanzende bringt Gesten, Bewegungen, Abläufe und „Motive“ ins Hier und Jetzt und lädt sie emotional auf. Mit seiner ganz eigenen Geschichte, mit seinen Emotionen, mit seinen Erlebnissen.

"Spukhafte Fernwirkung" bei den Proben.
„Spukhafte Fernwirkung“ bei den Proben.

Die Tanzgeschichte, oder: Lebendigkeit und Gegenwart
Die Herausforderung dabei ist, mit Elementen aus der Tanzgeschichte umzugehen und diese nicht statisch erscheinen zu lassen. Das bedingt auch meine Abneigung gegen Tanz, der allzu sportlich und auf Wettbewerb bezogen wird: Er wird leblos, leer, reiner Selbstzweck. Selbst die Emotionen in diesen Wettbewerbstänzen wirken gespielt, aufgesetzt, inszeniert. Es sind nur Zitate von einstigen Tänzen und Emotionen, die nicht die eigenen sind.
Am Abend „Spukhafte Fernwirkung“ wurde genau das vermieden. Die Tänzerinnen und Tänzer waren tänzerisch größtenteils brillant. Aber die tänzerische und „technische“ Komponenten trat nie zu sehr in den Vordergrund. Vielmehr wurden die tänzerischen Elemente, die Ausdrucksmöglichkeiten, die der Tanz und die Tanzgeschichte bereitstellen, zu einem riesigen Möglichkeitsraum, in dem sich die Tänzerinnen und Tänzer ganz individuell ausdrücken und verwirklichen konnten. Die emotionale Nähe und die Intensität waren geradezu zwingend. Auch das Thema des abends kam alldem sehr entgegen.
Tanz: Ein flüchtiges Medium, bei dem die Gegenwart zählt, das sich aber sehr wohl geschichtlich beschreiben lässt.
Tanz: Ein flüchtiges Medium, bei dem die Gegenwart zählt, das sich aber sehr wohl geschichtlich beschreiben lässt.

Es ging, grob gesagt, um die Identitäten der einzelnen Tänzerinnen und Tänzer und der einzelnen Tanzstile. Die Stile beeinflussen einander, es gibt keine Unabhängigkeit der einzelnen Stile, die Identität ist ständig gefährdet. Auch die Tänzerinnen und Tänzer beeinflussen sich gegenseitig, nähern sich an, distanzieren sich, entfremden sich und kommen sich ganz nahe.
Sie versuchen den anderen zu imitieren, beharren auf ihrem eigenen Sein und geben dieses in manchen Situation auch bereitwillig kurzfristig auf. Ein System, das Störungen und Irritationen nicht zulässt ist kein ausreichend komplexes System. Ein System muss auf das „andere“ reagieren, es auch für sich vereinnahmen, neue Reaktionen etablieren können. Nur so sind Weiterentwicklung und eine Differenzierung in sich möglich.
Von daher gelang beim Tanzabend „Spukhafte Fernwirkung“ eine bemerkenswerte Symbiose: Körperliche Präsenz der Tänzerinnen und Tänzer, Intensität und Überwältigung mit brillanter tänzerischer Technik. Zugleich war es aber auch ein intellektuell ansprechender Abend. Abstrakt, analytisch kühl. Es war auch eine Vorführung und zur Diskussion Stellung der Identitäten der einzelnen tänzerischen Stile und der Geschichtlichkeit dieser Stile. Es war der Versuch der Beantwortung der Frage, ob und wie sich Stile berühren können.
Es war ein Meisterstück in der Frage, wie Formeln, Bilder und „Motive“ des Tanzes für den Augenblick und für die jeweils tanzende Person fruchtbar und lebbar gemacht werden können. Es war ein lebendiges Stück Tanz, dessen Lebendigkeit und Kraft auf die Zuschauer überging, die den Tänzerinnen und Tänzern, zu Recht, reichlich applaudierten. Auch Jochen Hampl, der den Abend musikalisch mit zum Teil improvisierten, geräuschhaften Gitarrenattacken, teils mit Fragmenten von Flamenco und anderem untermalte, wurde gefeiert. Er war der stille, aber äußerst wichtige Pol, der den Abend einen musikalischen Rahmen gab.
Es war ein Abend, der mir schlagartig, auf einen kurzen Abend komprimiert, bewusst machte, auf welchem tänzerischen Niveau sich die Innsbruck und Tiroler Tanzszene bewegt. Es wird ganz sicher nicht mein letzter Abend in diesem Bereich gewesen sein.

Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.

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