(c) Walter Klier

Vor dem Winter

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Die Hennen wuseln noch am Eingang zur Voliere herum, manche rennen wieder heraus, andere hinein, als sie mich kommen sehen, in der Annahme, daß ich etwas zum Fressen mitbringe. Ich habe nichts mit, aber jedenfalls sind sie nun alle drinnen und ich kann zusperren. Die meisten gehen durchs Türl in den Stall, ein paar bleiben heraußen in der Voliere und verbringen die Nacht auf der hier angebrachten Stange. Im Sommer sind alle heraußen, bis auf allfällige Bruthennen mit oder ohne Brut, die, um letztere zu schützen, gesondert untergebracht werden.

Heute ist einer der Abende, an denen man wieder einmal sicher zu sein glaubt, daß nun der Winter endgültig vor der Tür steht. Es hat schon am Nachmittag geregnet und dürfte ein Stück weiter oben am Berg bereits schneien. Vielleicht schneit es in der Nacht bis zu uns herunter, und wenn es dann aufreißt, gibt es einen dieser klar-hellen, weiß-blauen, bitterkalten Morgen, wo es einen schon beim Hinausschauen aus dem Fenster abbibbert. (Ein Wort mit zwei Doppel-b, eigentlich toll, daß es so etwas gibt! Ich habe es in meinem bisherigen Leben noch nie geschrieben, nur gesagt, jetzt, wo es schwarz auf weiß dasteht, finde ich es absolut apart.)

Bis zu uns auf 914 m über dem Meer (bei Triest) heruntergeschneit hat es schon Ende September, genau gesagt am 25. September, als meine Ausstellung in der Altstadtgalerie Hall eröffnet wurde, ohne Vernissage wegen der bekannten Umstände, es kamen also im Lauf des Tages, den ich in der Galerie verbrachte, insgesamt ungefähr 5 oder 7 Leute vorbei, am Ende war ich doch in ziemlich miserabler Stimmung und mein ganzes Leben erschien mir mehr oder weniger vertan und sinnlos. Wie es einem halt manchmal so geht. Mein Galerist, Hannes Niederlechner, der netteste Galerist, den man sich überhaupt vorstellen kann, führte mich noch ein Stück in Richtung trautes Heim, und auch da war es kurz nach sechs zappenduster, und gleich nebenan, an den Südhängen des Thaurer Zunterkopfs, schimmerte es schon weiß herunter. Aber trotz alledem und nicht zuletzt dank Hannes‘ nie versiegender Zuversicht und seinem allumfassenden Engagement wurde es insgesamt eine tolle Ausstellung, wie jeder, der dort war, bestätigt hat.

Jedenfalls ist es jetzt, um noch nicht einmal fünf Uhr, ebenfalls wieder zappenduster, und höchste Zeit, daß die Viecher in den Stall kommen, damit sie nicht der Fuchs auf seinem Abendspaziergang erwischt. Dieser Abendspaziergang führt ihn nämlich regelmäßig bei uns vorbei, da schaut er nach, ob wir nicht vielleicht doch die Stalltür offengelassen haben, oder eine Henne übersehen, die sich dann im Dunkeln aus einem Strauch herausklauben läßt.

Abgesehen von den diversen Sorten Geier, die mit vergleichbaren Absichten bei Tageslicht ihre Aufwartung machen, bedroht die Hennen eigentlich nur der Tod von unserer Hand, die wir sonst weiß Gott was aufführen, um sie zu schützen, zu nähren und sonstwie zu umhegen. Und zwar dann, wenn sie allzu alt geworden sind, also seit Jahren nichts mehr legen oder so gut wie nichts, bereits Fuß-, Bein- und sonstige Beschwerden aller Art haben, also auch der wohlverdiente Lebensabend im Grunde hinter ihnen liegt. Irgendwann erreichen wir nämlich den Punkt, an dem die Überaltung die Veranstaltung „Hennenstall“ so ziemlich ins Absurde kippen läßt, wenn nämlich kein Schwein mehr etwas legt, bei andererseits unvermindertem Appetit, also ungefähr der Grad an Überalterung, den das gute alte Europa auch bald erreichen wird.

Irgendwann, nach Monaten und Jahren des Zauderns, wird dann eines Abends beschlossen, daß eine oder zwei unserer Ältesten dran glauben müssen und ins letzte Stadium des artgerechten Lebens, das der Suppenhenne, wechseln dürfen. Dabei gibt es unter Umständen Überraschungen wie das auf obigem Foto sichtbare Geschwür, oder was es denn sein mag, das beim Ausnehmen ans Licht gekommen ist und uns dazu bewog, die prospektive Suppenhenne zu gegart zum Katzen- und Hühnerfutter umzuwidmen. Die Hennen selber sind nämlich recht unsentimental, was den Verzehr ihrer Artgenossen anlangt.

Walter Klier, geb. 1955 in Innsbruck, lebt in Innsbruck und Rum. Schriftsteller und Maler.
Belletristik, Essays, Literaturkritik, Übersetzungen, Sachbücher. Mitherausgeber der Zeitschrift "Gegenwart" (1989—1997, mit Stefanie Holzer). Kommentare für die Tiroler Tageszeitung 2002–2019.
Zahlreiche Buchveröffentlichungen, u.a.: Grüne Zeiten. Roman (1998/Taschenbuch 2014), Leutnant Pepi zieht in den Krieg. Das Tagebuch des Josef Prochaska. Roman, 2008. Taschenbuch 2014). Der längste Sommer. Eine Erinnerung. 2013.
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