Plattenzeit #94: Bell Witch – Mirror Reaper

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Trauer


Über Todesfälle freut man sich selten. Ereignen sich diese im näheren Umfeld können sie sogar zu akuter und schier unüberwindbarer Traurigkeit und Verzweiflung führen.  Eine weitere Steigerung der Trauer-Intensität tritt zumeist dann ein, wenn lieb gewonnene Menschen unerwartet und viel zu früh sterben.
Der Tod tritt, das ist so sicher wie das Amen im Gebet, irgendwann in jedes Leben. Die anschließende Trauerarbeit wird zumeist im stillen Kämmerlein, zumindest aber im Privaten, geleistet. Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass solche emotionalen Ausnahmesituationen zu großartigen Kunstwerken führen.
Die amerikanische Band Bell Witch, deren Musikstil gerne als „Funeral Doom“ bezeichnet wird, hat einen großen Verlust hinter sich. 2016 ist ihr Schlagzeuger, Adrian Guerra, gestorben. Das geschah kurz nachdem er die Band verlassen hatte. Er wurde nur 36 Jahre alt.
Zu dieser Zeit steckte man bereits in den Kompositionsarbeiten für das aktuelle Album „Mirror Reaper“. Dass der Tod von Guerra maßgeblich Einfluss auf den weiteren Entstehungsverlauf dieses Werkes hatte liegt auf der Hand. Welch kraftvolles Werk daraus entstehen würde war aber nicht abzusehen.
„Mirror Reaper“ trifft eine unvorbereitet. Die bloße Form ringt einem schon Respekt ab. Es gibt nur ein Stück auf dem Album, das aber über 83 Minuten lange andauert. Unterteilt ist dieses lediglich in zwei Teile, „As above“ und „So below“. Bei beiden Teilen ist man mehr der Logik der Entwicklung von Motiven verpflichtet als dem klassischen Song-Format. So ist es auch unzutreffend von einem überlangen Song zu sprechen. Man lässt sich Zeit, setzt auf Repetition bis zum Abwinken, so lange bis man sich als Hörer ganz im Netz der Traurigkeit mit einem unüberbrückbaren Gefühl der Ausweglosigkeit verheddert hat.
Dann geschieht es. Der „Song“ beginnt sich überraschend zu bewegen, man beginnt auf Kleinigkeiten und Details zu hören. Das kann das Feedback des 6-Saiten-Basses von Dylan Desmond sein, der während des gesamten Albums die Rolle einer Gitarre übernimmt und so brachial klingt wie wenig in diesem Bereich. Das kann auch die dezent eingesetzte Hammond-Orgel von Schlagzeuger Jesse Shreibman sein, die nicht Pathos, sondern Atmosphäre anstrebt. Über allem thronen spärlich aber hocheffizient eingesetzte Vocals. Kreischen, flüstern, singen, schreien, growlen – bei diesem Variantenreichtum bleiben keine Wünsche des Extremmusik-Liebhabers unerfüllt.
Die eigentlich Sensation ist, dass dieser Wahnsinn aufgeht und Langweile trotz zeitlicher Überlange nicht eintritt. Umso erstaunlicher ist das, als dass man hier auf wie auch immer geartete Virtuosität vollkommen verzichtet. Es wird nicht akrobatisch über das Griffbrett geturnt und es wird nicht komplex getrommelt.
Stellenweisen fallen einem die rauschenden Akkord-Flächen von Sunn o))) als Vergleich ein. Man weiß schon, dass einem der nächste Akkord auf „Mirror Reaper“ wieder absolut vor den Kopf stoßen wird, dass der Trommelschlag hart sein wird. Wenn dann aber zur komprimierten Härten und Traurigkeit unerwartete Wendungen dazu kommen, dann zieht es einem doch den Boden unter den Füßen weg. Dann ist man zugleich unfassbar traurig und maßlos begeistert.


Fazit


Nach dem  ausgiebigen Genuss dieses dunkelschwarzen und abgründigen Monoliths fühlt man sich vor der Zeit gealtert. So als ob einem, da man für die letzten 83 Minuten ja jegliche Fröhlichkeit und Lebensfreude abgelegt hat, Lebensjahre entzogen worden wären. Aber das Album wirkt auch kathartisch. Wenn es Tonkunst gibt, die sich soweit hinein wagt in die menschlichen Abgründe und daraus solche Extrem-Kunst destilliert, dann muss etwas am Leben dran sein. Dann lohnt es sich vielleicht doch, trotz allem, zu leben, zu leiden und solche Meisterwerke anzuhören.


Zum Reinhören



Titelbild: (c) TravisVanHalen, flickr.com 

Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.

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