Von unbedrohten weißen Männern und grünen Revolutionärinnen

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Im Netz regiert der Hass und die Hass-Poster feiern fröhliche Urständ. Bedroht und angefeindet werden vor allem Frauen und ethnische Minderheiten. Der weiße, heterosexuelle Mann gehört zweifellos nicht zu der Sorte Mensch, die tagtäglich mit Hass und Drohungen konfrontiert ist.
Folgerichtig daher von der Politikerin, nennen wir sie Eva, einen Schritt in die richtige Richtung zu unternehmen. Beleidigungen sollen zum „Ermächtigungsdelikt“ werden. Das heißt nicht viel mehr als dass künftig Staatsanwälte das Delikt verfolgen, falls der Anzeigesteller diesen Wunsch äußert.
Diese Möglichkeit soll, bis auf weiteres, jedoch nur den besagten ethnischen Minderheiten und Frauen zugestanden werden. Der weiße, heterosexuelle Mann geht vorerst leer aus. In dieser Sache beweist unsere Eva eindeutig, dass es ihr um Treffsicherheit geht. Eine umfassend an Gender-Theory geschulte Politikerin weiß einfach, dass Sprache Realität schafft und konsequenterweise also zuerst mit der „Hassrede“ gegenüber bedrohten Identitäten Schluss sein muss.
Die diskursiv generierten Machtstrukturen und Dispositive müssen endlich ausgehebelt werden. Es geht um alles. Mithin um eine lebenswertere Zukunft ohne Hass und ohne Drohungen in der jede und jeder das sein kann, was er ist oder sein möchte. Sind erst die einengenden und repressiven Machtstrukturen und die „Hassreden“ weg, weiten sich die Möglichkeiten uns selbst als das zu entwerfen, was wir gerne wären.
Das klingt nach einem wunderschönen Zukunfts-Szenario. Unsere Sprache ist geschlechtersensibel und schlicht und einfach gerechter geworden. Wir denken zweimal nach bevor wir sprechen. Schließlich ist die Sprache ja die äußere Seite des Denkens. Aber nicht nur das. Man darf davon ausgehen, dass das „Innen“ und das „Außen“ in einem reziproken Verhältnis zueinander stehen. Wenn das „Äußere“, also das in der Öffentlichkeit und somit auch das im Netz geäußerte, sensibler und bedachter ist, dann ändert sich auch das „Innere“, unser Denken an sich.
Der Weg zu dieser offenen, ohne Repression und ohne Hass auskommenden Gesellschaft ist steinig und schwer. Das ist auch unserer Eva bewusst. Auf dem Weg zur angestrebten Gesellschaft wird es so manch paradoxe Momente geben. Etwa dass unterwegs die Toleranz bei den Intoleranten aufhört. Oder etwa dass explizit zwischen „bedrohten“ und „unbedrohten“ Identitäten unterschieden wird. Der Zweck und das Endziel heiligen die Mittel.
Wir werden uns alle zusammen durch die Hasspostings im Netz klicken und lesen müssen. Wir werden gezielt nach „Hassreden“ suchen müssen. Wir werden feinfühlig Subtexte von Postings interpretieren und herausfiltern müssen und daraufhin überprüfen, ob nicht doch sexuelle Anspielungen und Herabwürdigungen von Frauen mit im Spiel sind.
Vorübergehend, bis alle Anspielungen, Beleidigungen und „Hassreden“ eliminiert sind, werden wir um weitere Verbote nicht herumkommen. Eine Gesellschaft, in der alles gesagt werden darf, ist nicht erstrebenswert. Es gilt das Richtige sensibel genug und unter Einhaltung der Regeln der Korrektheit und in Hinblick auf die kommende offene Gesellschaft hin zu sagen.
Niemand hat behauptet, dass das leicht werden wird. Aber wir müssen diesen Weg gehen. Wir sollten uns der Revolutionärin Eva anschließen, die uns alle zum Licht einer befreiten und hochgradig toleranten und offenen Gesellschaft hinführen wird. Es ist Zeit!

Hier geht es zur vorherigen Folge von "Kleingeist und Größenwahn"

Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.

1 Comment

  1. Frau könnte nun ganz altmodisch argumentieren, dass der weiße, wohl heterosexuelle Autor auf diese Weise am eigenen Leib erfährt, wie es uns Frauen schon länger geht.
    Aber die Einschränkung der Anwendbarkeit des „Ermächtigungsdelikts“ ist wirklich unüberlegt. Ich frage mich allerdings grundsätzlicher, ob die bestehenden rechtlichen Möglichkeiten bisher überhaupt ausgeschöpft und konsequent genug gegenüber Hass-/Hetzaussagen aller Art angewandt wurden und werden. Insofern teile ich seine Skepsis gegenüber weiteren Verboten.

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