Freitagsgebet #10: Maske des Menschseins

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Innrain mit Blick Richtung Süden. Auf der linken Seite befindet sich der Geiwi-Campus. Dort forscht die Innsbrucker Amerikanistin Gudrun Grabher zu Beschreibungen entstellter Gesichter in der amerikanischen Literatur und verbindet sie mit der Philosophie von Emmanuel Levinás. Für Levinás gipfelt alles menschliche Denken in der Ethik und diese beginnt im Gesicht des anderen. In your face, sozusagen. Denn das Gesicht, das Antlitz, ist mehr als die plastische Erscheinung, es steht für den ganzen Menschen, aus Leib und Seele. Das Gesicht ist dynamisch, es verhüllt (Pokerface) und lässt tief in die Seele des anderen blicken. Im Antlitz des anderen endet die Totalität des Ichs. Da beginnt eine Welt, die jenseits meines egozentrischen Absolutismus existiert. Da beginnt Ethik ­- nicht bei mir, sondern im Gesicht des Du – in dessen unendlicher Heiligkeit, die mich anschaut, face to face. Grabher stellt hier die Frage, was Levinás‘ Ethik für Menschen mit entstellten Gesichtern und die, die ihnen begegnen, bedeutet. Straßenseitenwechsel.
Auf der rechten Seite befindet sich das Klinikgelände. Jedes Jahr startet an der Medizinischen Universität Innsbruck ein neuer Sezierkurs. In Arbeitsgruppen werden um die 30 Leichen an die Studierenden übergeben. Immer zwei teilen sich einen Körperteil in einer Früh- und Spätschicht. Zwei behandeln auch das Gesicht, jeder für sich eine Gesichtshälfte. Sukzessive wird die Gesichtshaut abgekratzt. Sehr vorsichtig, denn es gibt nur wenig Fettschichten und die darunterliegende Muskulatur muss für die spätere anatomische Beschreibung unversehrt bleiben. Wie geht es dieser Medizinstudentin, diesem Medizinstudenten dabei, ein totes Gesicht zu zerteilen? Denkt sie/er sich, es gehört einfach zum Studium dazu? Beginnt sie/er sich zu fragen, was es eigentlich heißt „Mensch zu sein?“.
Hörte dieser Mensch auf, Mensch zu sein, als er starb? War die Leiche also niemals Mensch, sondern immer schon „nur“ Leiche, als Mensch ohne Menschsein? Für Levinás besitzt auch eine Leiche ein Antlitz und ist damit Ausgangspunkt einer Ethik. Auch die Leiche ist für ihn ein „Anderer“. Und auch eine Leiche schaut uns an, face to face. Doch was passiert nun, wenn ein Medizinstudent die Aufgabe hat, das Gesicht der Leiche Stück für Stück zu zerlegen? Hört die Leiche irgendwann auf, Mensch zu sein? Ist Menschsein eine Maske, die man mit der Haut, mit den Muskeln abnehmen kann? Warum ekelt es uns so, wenn wir Bilder von zerstückelten Gesichtern sehen? Sind wir evolutionsbiologisch so veranlagt? Ertragen wir die radikale Verwundbarkeit eines offen gelegten Gesichtes nicht? Erkennen wir uns selbst darin und wollen es nicht wahr haben? Wann hört hier die Unterscheidung zwischen Mann und Frau auf zu existieren? Alles eine Frage der Haut? Es wäre falsch, hier anzufangen Sezierkurse unnötig zu moralisieren. Dafür gibt es den feinen Unterschied zwischen Ethik und Moral. Eine Frage stellt sich aber an uns alle: Ist Menschsein eine Maske?

Titelbild: (c) Pexels

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