Foto von Faris Mohammed auf Unsplash

Der Kulturreferent

Spannend, schön und verstörend zugleich.

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Eines Morgens wachte der Kulturreferent auf. Er lag auf dem Rücken, seine Arme und Beine fühlten sich steif an. Es fiel ihm schwer, sich aufzurichten. Irgendetwas stimmte nicht. Seine Hände waren feingliedriger und zarter, als sie es noch am Vorabend gewesen waren.

Er ging zum Spiegel. Alles an seinem Körper wirkte filigran. Unter den Augen trug er dunkle Ringe. Aber damit nicht genug. Ihm kamen plötzlich Gedichte in den Sinn und Sätze, die zu formulieren er nie für möglich gehalten hätte. Er wusste, dass sein Leben von nun an ein anderes sein würde. Er hatte sich verwandelt, in einen Dichter.

Ungeachtet dessen beschloss er, den Tag wie gewohnt zu beginnen und in sein Büro zu gehen. Dort angekommen, konnte er kaum glauben, was er sah. Die Bediensteten der Abteilung hatten sich in Dichter und Dichterinnen verwandelt. Die Schreibtische waren übersäht mit Manuskripten. Wer nicht dichtete, arbeitete an Petitionen oder schrieb Förderanträge.

Die Wände waren vollgekritzelt mit Forderungen: mehr Geld für Kultur und Literatur. Respekt und Wertschätzung. Förderung der unterschiedlichen Stimmen im Lande. Ermutigung junger Menschen. Schaffung von Möglichkeiten für literarische Interaktion, auch an Schulen und Universitäten.

Als er sich an seinen Schreibtisch setzte, klopfte ihm jemand auf die Schulter: „Entschuldigen Sie, ich suche nach einer Förderung für mein neues Buch“, sagte der Dichter zum Kulturreferenten, der er einst gewesen war.

Verwirrt rief er einen Freund an, um diesem von seiner Verwandlung zu erzählen; er brachte aber nur Gedichte hervor. So fragte er sich, was nun zu tun sei und entschied sich, nach Hause zu gehen.

Die Menschen, denen er auf der Straße begegnete, reagierten verstört. Niemand verstand, was er sagte, auch nicht der Kulturveranstalter, dem er ein Gedicht vortrug. Seine Worte waren schön, aber ohne Sinn. Er konnte nicht mehr in der Welt der Politik leben. So viel stand fest. Aber auch die Welt der Dichtung war ihm noch fremd.

Während er versuchte, sich damit abzufinden, verspürte er plötzlich einen starken Harndrang. Sein Herz begann schneller zu schlagen, Schwindel erfasste ihn. Dann öffnete er die Augen. Er lag im Bett, in seinem Schlafzimmer. Sein Mobiltelefon lag am Nachtkästchen, daneben ein Buch, in dem er vor dem Einschlafen gelesen hatte. Gut, dass er nicht Gregor hieß.

Martin Maier: Geboren 1962 in Schwaz (Tirol). Erste Veröffentlichungen
in den 80er und frühen 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts (ORF,
Thurntaler, Sturzflüge, Gegenwart, Extra zum Wochenende der Wiener
Zeitung, Anthologien), Literaturstipendium des Landes Tirol (1990). Er
lebt in Innsbruck und unterrichtet Latein und Philosophie/Psychologie
an einem Gymnasium für Berufstätige.

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