Plattenzeit #75: Chelsea Wolfe – Hiss Spun

4 Minuten Lesedauer

Im Zweifel für den Powerchord


Der Powerchord ist dem Metaller lieb und dem Jazzer tendenziell suspekt. Der Powerchord hat Kraft, ist aber simpel und oft allzu nahe liegend.  Der Gitarrist lernt ihn zumeist nach den grundlegenden Dur- und Moll-Akkorden. Sodann steht ihm die Welt der kraftvollen und lauten Musik offen.
Auf dem aktuellen Album „Hiss Spun“ der Amerikanerin Chelsea Wolfe wimmelt es nur so vor Powerchords. Die ungekrönte Gothic-Königin findet mit ihm zu einer Kraft und Unmittelbarkeit, die ihr bisher fremd war. Sie benutzt ihn ausgiebig und gerne und lässt auch noch erstmalig ihre Musik vom Kraftmeier Kurt Ballou produzieren, der ansonsten als Produzenten-Guru in der Hartmusik-Fraktion gottgleiches Ansehen genießt. Für Subtilität steht sein Name nicht gerade, dafür aber für übersteuerte Gitarren und Drums, die sich auch mal den Vorwurf gefallen lassen müssen, dem sogenannten „Loudness-War“ Vorschub zu leisten.
„Hiss Spun“ der Dunkelfrau Wolfe ist aber ein anderer Fall. Ballou versteckt ihre Stimme ein wenig, macht sie damit aber noch mystischer und unheilversprechender. Bereits beim Vorgänger „Abyss“ deutete sich diese Entwicklung an. Dominierte einst zerbrechliches Folk-Gezupfe, so waren es auf diesem Album schon laute, bratzige Gitarren. Auf „Hiss Spun“ findet diese Dominanz ihre Fortsetzung und diese Tendenz seine bisherige Perfektion.
Die Gitarren klingen auf „Hiss Spun“ kräftiger und besser als je zuvor. Das liegt auch an der Produktion. Verführerisch surrt und rauscht es hier. Ganz so als hätte man sich im Studio nicht monatelang Zeit gelassen, sondern einfach mal losgelegt. Dem Live-Ereignis Chelsea Wolfe, das über die Zeit ja ebenfalls immer brachialer und unmittelbarer wurde, kommt das überaus nahe.
Bereits bei dem repetitiven „Spun“ darf man kräftig seine Haare schütteln und dabei versuchen, die Texte von Fräulein Wolfe zu verstehen. Verführerisch lässt sie über die gesamte Platte Melodien mit großem Gerumpel kollidieren. Die harte Hülle lässt den weichen Kern nur umso besser zum Vorschein treten. Das Händchen der Songwriterin für unfassbar gute Melodien führt durch diese Platte und ist stärker als je zuvor.
Ergänzend steht ihr dieses Mal der eine oder andere Überraschungseffekt zur Verfügung. Laut tritt leise, hart und direkt trifft fragil und hintergründig. Das Spiel mit Dynamiken ist meisterlich gut gelungen. Die Texte erzählen von menschlichen Abgründen, welche wiederum trotz aller Klarheit und Aufgeräumtheit in Sachen Struktur detailliert und mit manchem Seitwärtsschlenkerer ausgeleuchtet werden.


Fazit


Mit „Hiss Spun“ entwickelt sich Chelsea Wolfe zum potentiellen Superstar, weit über die Grenzen von Gothic, Metal oder sonstigen Genres hinaus. Wer sich hineinwagt in diese dunklen, morbiden und faszinierenden Klanggebilde findet Melodien, Hooks, großartige Riffs und Katharsis massenweise vor.
Nicht zuletzt zeigt Chelsea Wolfe, dass „Gothic“ längst nicht klischeehafte Fokussierung auf Negativität mit vorgefertigten Mitteln bedeuten muss. Frau Wolfe hat ihre eigenen Mittel gefunden um von echten Abgründen zu erzählen, bei denen einem in den besten Momente wohliger Schauer über den Rücken läuft.


Zum Reinhören



Titelbild: (c) Michael Lamertz, flickr.com 

Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.

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