Der Prophet aus der Suburb

8 Minuten Lesedauer

They claimed to love me, but they all lying 

Die Zeiten, in denen der Künstler am Existenzminimum romantische Fantasien von großer Freiheit und dem Leben im Heute hervorruft, sind eindeutig vorbei. Kunst ist institutionell geworden, gefördert und käuflich, und wer aus dem Raster herausfällt, hat Pech gehabt.
Benjamin Clementine, der junge Londoner, Sohn ghanesischer Immigranten, lebte lange Jahre am Existenzminimum. In einem großen Befreiungsschlag von einem engen Umfeld, das es ihm nicht erlaubte, sich musikalisch zu entfalten, ging er als 19-Jähriger nach Paris und spielte dort jahrelang mit seiner Gitarre in der Metro und auf der Straße, wo er zeitenweise auch lebte. „They say no man can be a prophet in his own country, and so I left“, singt er in seiner 3-Minuten-Autobiographie „Winston Churchill’s Boy“.
Er war ein Musiker außerhalb aller Institutionen, außerhalb einer Tradition, der auf der Gitarre und am Klavier nachspielte, was er bei seinen großen Meistern Nina Simone, Leonard Cohen, Erik Satie oder Serge Gainsbourg hörte. Bald fing er an, selbst zu komponieren und dazu wunderbare, kryptische Lyrics zu schreiben.
„If you’d stay with me, your tomorrow will be endlessly free“, hieß es auf seinem Debütalbum „At Least For Now“, das wie aus dem Nichts über Europa hereinbrach und sogar Größen wie Paul McCartney völlig verblüffte.Das ist das Versprechen eines Ausnahmekünstlers, der sich weder selbst darstellen möchte, noch Teil eines Genres, eines Diskurses oder eines Marktes sein möchte.

I write for the people and I

„Im Grunde sehe ich mich als eine Art Vertreter der Menschheit. Durch meine Lieder möchte ich die Menschen an all das erinnern, was ihnen im Alltag bisweilen verloren geht. Ich will zu den Leuten sprechen, so wie ich jetzt mit dir rede. Mir geht es um Kommunikation“, sagte er in der ersten großen Erfolgswelle im Interview.
Das ist ein großer Anspruch, ein altmodischer Anspruch, der die Popmusik immer beflügelt hat und ihr doch zunehmend abhanden kommt.
Was es ist, das Benjamin Clementine seinen Zuhörern sagen möchte? Er singt von der Bitterkeit des Lebens, von den Widrigkeiten, denen ein junger Mensch und ein junger Künstler ausgeliefert ist, um die Schwächen des Menschen und die Fehler, aus denen er lernt. Und darum, dass man nicht so viel nachdenken soll, sondern sich ins Leben und die Liebe mit all ihren Risiken hineinstürzen muss. Er singt von dem kleinen Jungen, der seine Mutter nachts am Boden liegend findet und schreit: Wake up, mother, wake up!
Was ist die Konsequenz? „Why would you lose a lot of your energy on what people might say?“, so Clementines Gegenfrage. Auch wenn die Dinge nicht so laufen, wie wir sie uns vorstellen, wie wir sie gerne hätten, auch wenn wir gebrochen und schmerzgeplagt sind, missverstanden und verletzt: „I won’t underestimate who I am capable of becoming.“ Man darf nicht unterschätzen, was alles möglich ist, in einem selbst und in dieser Welt.

Nobody knows what’s on this boy’s mind

Benjamin Clementine ist ein junger Mann, der viel von dieser Welt gesehen hat. Armut und Kriminalität in seiner Kindheit, Armut und Einsamkeit als Straßenmusiker in Paris. Und dann der Erfolg? Eine Geschichte, die ein gutes Ende nahm und uns optimistisch stimmen soll? Clementine ist sich nicht sicher. Manchmal sehnt er sich zurück nach der Zeit, als er noch auf der Straße spielte. Wegen des unmittelbaren Kontakts. Weil er, anders als auf der Bühne, immer sehen konnte, wenn die Menschen berührt waren.
Und so wirkt er, der in der Carnegie Hall und auf Burberry-Modeschauen spielt, auf großen Bühnen und in sterilen Konzerthallen immer ein wenig fehl am Platz. Der schweigsame, linkische Benjamin, fast zwei Meter groß, mit Afro nochmal mindestens 15 Zentimeter größer, immer barfuß am Klavier, weil er das ähnlich geil findet wie barfuß Auto zu fahren, kann ein Publikum fesseln. Schon alleine mit seiner Stimmgewalt und seiner Virtuosität am Klavier. Meist tritt er nur mit einem Schlagzeuger und der blutjungen Cellistin Barbara Le Liepvre auf. Aber er muss die Situation immer ironisieren, zwischendurch sich selbst und das Publikum auf die Schippe nehmen. Eigentlich ist das alles nur Show, das Eigentliche spielt sich in der Kunst ab. Also hört einfach zu, Leute.

But will the dreamers stay strong?

Clementine ist nicht gefällig, niemand, der sich auf die Versprechungen von Ruhm und Erfolg einlässt oder bietet, was von ihm verlangt wird. Schräg war er schon auf seinem ersten Album. Das zweite, „I Tell a Fly“, das letzte Woche erschienen ist, verrät eine deutliche Weiterentwicklung in diese Richtung. Weniger zugänglich und viel politischer ist die Platte, die mit der Single „Phantom of Aleppoville“ angekündigt wurde.
Es ist die persönliche Auseinandersetzung mit einer Welt, in der es sich nicht unbedingt so leicht leben lässt. „By the ports of Europe everyone set coming“, aber der Schweinehund weiß nicht, warum. Europa selbst wird zu einem Dschungel, in dem Kinder so schnell als möglich aufwachsen müssen und in der die Spannung ständig steigt.
Das Album beginnt mit einem Farewell und endet mit einem Aufruf an die Träumer dieser Welt, standhaft zu bleiben, wenn die Barbaren einziehen. In Musik gegossen sind diese Eindrücke irritierend, wechselhaft, vielfältig – und wunderbar. Immer noch ist das Klavier, das Clementines große Leidenschaft ist, das er sich ohne fremde Hilfe beigebracht hat, im absoluten Zentrum, begleitet von kuriosen Chören, manchmal durch ein Cembalo ersetzt. Düsterkeit und Heiterkeit sind sich sehr nahe auf diesem kleinen Wunder von einem Album.
Das ist die Welt des Benjamin Clementine. Zu unserem großen Glück hindert sie ihn nicht am Songwriting, sondern inspiriert zum heiligen Zorn des Propheten, der keine Heimat hat und sich mit allen Heimatlosen solidarisiert.
Am 19. November ist Benjamin Clementine in der Münchner Philharmonie zu hören. „Empfehlung“ ist noch untertrieben.


Zum Reinhören



 Titelbild: (c) Micky Clément

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