Die Leiden des (jungen?) Vaters zu Schulbeginn

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Der Sommer ist  vorbei. Der Sommer für sich allein ist Geschichte. Die Fragen haben sich spätestens seit Beginn dieser Woche grundlegend geändert.

Die Fragen im Sommer waren meist einfach zu beantworten. Was ist die absolut richtige Trinktemperatur für Bier? Welches Fleisch eignet sich besonders gut zum Grillen? Und warum verdammt noch mal braucht diese Grillkohle so lange bis sie endlich glüht und man darauf auch ein wirklich großes Stück Fleisch grillen kann?

Der Sommer war eine Zeit der Optimierung und der Verfeinerung. Nach langen, mühsamen Experimenten und frustrierenden Fehlschlägen passten nach einiger Zeit sowohl Trinktemperatur des gekühlten, alkoholischen Erfrischungsgetränks als auch die Grilldauer des Fleischstückes. Die Frage ob Dose oder Flasche war ein für allemal beantwortet. Trockenes oder blutiges Fleisch gehören seit diesem Sommer der Vergangenheit an. Man könnte zu Recht glauben, dass solche Aktivitäten einiges zur Erhöhung des Entspannungsgrades des ansonsten gestressten Vaters beigetragen hat.

Doch nichts kann einen Vater auf das Hereinbrechen des Schulbeginns vorbereiten. Wachte man im Sommer hin und wieder leicht verkatert auf und merkte in einem inneren Monolog an, dass das letzte  Bier wohl schlecht gewesen sein muss und einem Rausch in den Alkohol gemischt wurde, so sieht der inneren Monolog des Vaters von einem schulpflichtigen Kind am morgen anders aus.

Was zur Hölle ist eigentlich ein Tonpapierblock? Haben wir gestern wirklich den richtigen Block gekauft? Welchen flüssigen Kleber wollte die Lehrerin tatsächlich haben? Ist die Schere, die wir gekauft haben, „schneidig“ genug und zugleich so ungefährlich, dass sich das eigene Kind damit nicht verletzt? Sind die Hausschuhe für die Schule bequem genug und zugleich nicht so bequem, dass das Kind nur mehr über die Treppen der Schule schlurft und damit ausrutscht und sich weh tut?

Wer glaubt, dass diese  Fragen bereits die Hölle auf Erden sind, der hat noch nicht verstanden, dass Schulbeginn vor allem eine immense Interpretations-Arbeit abverlangt. Der Vater – und natürlich auch die Mutter – sollte zumindest über grundlegende Kenntnisse der hermeneutischen Lektüre von Texten verfügen. Ein ausgeprägter Ordnungssinn wäre als Zusatzqualifikation außerdem dringend anzuraten. Denn die Lehrerinnen und Lehrer kommunizieren primär über das Medium „bunter Zettel“ mit den zunehmend gestressten Eltern. Geht ein solcher Zettel im Chaos des Schulbeginns verloren, wird die Lektüre und damit die Interpretation der Text-Intention verunmöglicht.

Gehen wir aber vom Optimal-Fall aus, dass alle Zettel den Weg nach Hause gefunden haben und alle Zettel auf dem Esstisch verteilt der Lektüre harren. Jetzt gilt es zu unterscheiden. Wer spricht? Wer schreibt? Was ist gemeint? Es gibt nämlich zumeist nicht nur EINE Lehrerin, sondern auch Sportlehrerin und Werklehrerin mischen sich in den hochgradig komplexen Diskurs des Schulbeginns ein.

Es geht um die Unterscheidung der Geister. Denn das ist, wie man aus naiver Sicht annehmen könnte, nicht nur ein Dialog zwischen Lehrerin und Eltern. Es gibt  viele Sprecher-Rollen, die nicht immer leicht auseinander zu halten sind. Aktanten dieser Situation sind Lehrerinnen (im Plural), Kinder und Eltern. Das führt zu verzwickten Situationen.

Eine einfache Textlektüre genügt niemals. Denn im Kontext der Schule zählt nicht nur das geschriebene Wort, sondern auch das gesprochene. In den allermeisten Fällen hat eine der Lehrerinnen nämlich nicht nur geschrieben, welches Material und welche Unterlagen benötigt werden, sondern dem Kind dazu auch noch zusätzliche Informationen mit auf dem Weg gegeben. In vielen Fällen konkurriert das Geschriebene mit dem Gesagten. Wenn man auch noch davon ausgeht, dass nicht jede Information exakt und konzis bei einem 8-jährigen Kind angekommen ist, dann ist auch die Quelle der Information zu hinterfragen, die zuhause angelangt ist. Manchmal ähneln die Ergebnisse den Ergebnissen, die man bei dem schönen Spiel „Stille Post“ erzielt.

Sind diese theoretischen und geistigen Fragen erst einmal einigermaßen zufriedenstellend gelöst, geht es um die handfeste, körperliche Praxis. Wie gelingt es, dass das Kind sowohl vollgepackte Schultasche als auch Werk-Koffer als auch Turnbeutel heil und ohne gröbere Rückenschäden in die Schule bekommt? Spätestens am dritten Tag in der Schulbeginn-Woche sind nicht nur die geistigen Fähigkeiten des Vaters gefragt, sondern auch pure Kraft. Es gilt nun mit eigener Arbeits-Tasche, Werk-Koffer und Turnbeutel artistisch durch die Straßen zu tänzeln.
Liebe Väter, liebe Mütter. Ich habe großen Respekt vor euren Leistungen. Ihr entschuldigt mich jetzt aber doch bitte? Ich muss mir erst einmal ein Bierchen genehmigen. Natürlich genau richtig temperiert. Ich habe es mir verdient. Schließlich ist die erste Schulwoche jetzt schon (fast) überstanden.

Hier geht es zu zur vorherigen Folge von "Kleingeist und Größenwahn".

Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.

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