Diesen Text hat kein Mensch geschrieben

Über den Verstand, Wurstbrote und Perfektion.

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Dieser Text entsteht unter großen Qualen. Es ist ein Kopftext, geschrieben von meinem Verstand. Wer gerade am Laptop sitzt, bekomme ich immer erst mit, wenn der Bildschirm schon aufgeklappt und die Maschine hochgefahren ist.

Die Finger, die die Tastatur bedienen sind stets dieselben. Der, der sie steuert wechselt. Oft mitten im Satz. Oft tagelang nicht. Der Verstand liebt das Schreiben. Fast schon zu sehr. Verbissen. Er will Autor sein, sich beweisen, zeigen wie intelligent er ist, wie belesen und merkfähig. Er misst sich mit anderen.

Sitzt er am Laptop werden Schubladen aufgerissen, Notizen herausgekramt, Fakten gesammelt, Gedanken verwoben und alles in Form gegossen. Gefühle werden beschrieben. Thesen aufgestellt und untermauert, Überleitungen gebaut und Schlussfolgerungen gezogen.

Schreibt der Verstand, ist jedes Wort bewusst gesetzt und dennoch ungenügend. Dann werden Sätze getippt und Sätze wieder gelöscht. Ein ewiges hin und her, ein Schreiben und Löschen. Ein Kampf. Ein krampfhaftes Ringen mit der Wahrheit auf der Suche nach Perfektion. Der Verstand kennt keine Selbstverständlichkeit, keine Intuition, nur Logik. Deshalb passiert nichts automatisch, sondern gewollt.

Kopftexte kosten Kraft. Viel Kraft. Hinter jeder Formulierung lauert ein Hindernis. Ein Zweifel. Ein Verbot. Jede Phrase wird hinterfragt. Der Kopftext gleicht einem Hindernislauf auf einem Laufband, das von Sekunde zu Sekunde schneller wird. Kopftexte sind schwer zu schreiben und noch schwerer zu lesen. Kopftexte möchten etwas aussagen, fühlen sich aber oft missverstanden. Sie zu verfassen dauert Stunden, oft Tage. Kopftexte schreiben sich langsam und machen müde. Hundemüde.

Das Gegenteil der Kopftexte sind Bauchtexte oder Herztexte. Im Gegensatz zu Kopftexten kann man sie nicht planen. Sie passieren. Oft in den ungünstigsten Momenten und innerhalb von wenigen Minuten. Bauchtexte sind leicht wie Federn und durchdringend wie Röntgenstrahlen. Man muss eine dicke Bleischürze tragen, um sich ihrer Wirkung zu entziehen.

Ich bin oft müde. Und mein Umfeld auch. Daheim, in der Arbeit, beim Feierabendbier mit Freunden. Alle schimpfen aufs Wetter, auf die Zeitumstellung und den Stress. Alles ist ermüdend. Kaum einer weiß noch, wann er (oder sie!) das letzte Mal wirklich wach war. Wir leben Kopftexte. Konstruierte Abbildungen der Wirklichkeit. Perfekte Kopien der Realität.

Wer am Laptop sitzt und schreibt, erkenne ich schnell. Wer mein Leben lebt, meist zu spät. Die Menschheit steht am Rand des Abgrundes, wenn die Kopfleben überhandgenommen haben.

Letztens war ich auf dem Berg und hatte Wurstbrote im Rucksack. Der Aufstieg zum See war beschwerlich. Jenseits der Baumgrenze wollte ich nicht mehr. Einzig der Gedanke an die verdiente Rast und die Brote ließ mich einen Fuß vor den anderen setzen. Auf den letzten Metern raubte mir der Heuschnupfen die letzte Kraft. Die reinste Qual. Mein Kopf schien zu platzen. Durchhalten. Endlich da. Hinsetzen. Durchatmen. Der Biss ins Brot war gut, aber nicht spektakulär, so wie erhofft. Dann erkannte ich.

Das Streben nach etwas – nach Perfektion oder Erleuchtung – ist wie Wandern mit Wurstbroten im Rucksack. Den ganzen Weg lang quält man sich, hat ausschließlich das Ziel und die Brote im Kopf. Dabei waren sie immer mit dabei.

Glaubt an das Gute im Menschen. Eigentlich Betriebswirt. Hat das ALPENFEUILLETON ursprünglich ins Leben gerufen und alle vier Neustarts selbst miterlebt. Auch in Phase vier aktiv mit dabei und fleißig am Schreiben.

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