Es gibt keine Alternative zum Elfenbeinturm!

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Ein wenig ist gerätselt worden. Darüber, warum es das Wort „degeneriert“ braucht und warum dieses auch noch in Verbindung mit den Innsbrucker Studentinnen und Studenten gebracht wird. Subtil geht anders. Das stimmt zweifellos.
Gehen wir in diesem Kontext davon aus, dass der „Elfenbeinturm“ eine treffende Metapher für das System Kunst ist. Der Kunstinteressierte ist dabei der „Elfenbeinturmbewohner“. Dem Elfenbeinturm wurde, wie man weiß, schon allerhand vorgeworfen. Weltfremd und unzeitgemäß seien sowohl der Elfenbeinturm selbst als auch dessen Bewohner. Sie würden sich von der Welt, von der Realität, von den politischen Gegebenheiten abschotten und sich ganz in ihrem zweckfreien und rein ästhetischen Kunstgenuss widmen.
Das Gegenteil trifft zu. Wer den Elfenbeinturm unreflektiert abmontiert und als Anachronismus bezeichnet, gibt die Kunst und deren Wirkung leichtfertig auf. Wer glaubt, dass die Kunst im rein politischen Kontext besteht, der irrt sich. Erst im Elfenbeinturm kann sie ihre volle Wirkung entfalten. Erst wenn sie sich abschottet, auf Distanz geht und sich nicht permanent einmischt kann sie wirklich wirkungsvoll sein. Das ist nur auf den ersten Blick paradox.
Vielmehr ermöglicht der Elfenbeinturm der Kunst, nicht auf die Tagespolitik, auf jeden Trend und auf jedes Ereignis reagieren zu müssen. Die Kunst lässt sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen und macht sich ihren eigenen Reim auf die Zustände in der heutigen Zeit. Seelenruhig hat sie alle Zeit der Welt, weiß sie doch von der Geschichte von vielen hundert Jahren. Sie vergleicht, wiegt ab, wartet ab und reflektiert.
Die Kunst ist ein System, das nach ganz eigenen Kriterien funktioniert. Die Kunst beobachtet die Welt und andere Systeme und reagiert auf ihre eigene Weise. Sie ist ein hochkomplexes System, in das sich die Ereignisse, die sich außerhalb des Systems Kunst zutragen, einschreiben. Die Kunst ist nicht ignorant. Aber sie hat die Funktion, Ereignisse, Trends und Strömungen nach ihrer Relevanz, nach ihrer Substanz zu analysieren und zu bewerten. Sie äußert sich, manchmal aber mit Verzögerung und mit ihren ureigenen Mitteln.
Dieses System Kunst beeinflusst wiederum den Kunstinteressierten. Er übernimmt die Haltung und die Zurückhaltung der Kunst. Wenn er auf die Welt und auf die Missstände reagiert, dann macht er keine politische Aussage, sondern eine Aussage im Rahmen der Kriterien der Kunst.
Er fragt sich zum Beispiel im Moment nicht, wie die „Flüchtlingskrise“ gelöst werden könnte, sondern er stößt sich daran, dass die an sich wichtige und alternativlose „Willkommenskultur“ Tendenzen dazu hat, ihr Weltbild zu verabsolutieren. Mit einem am System Kunst geschulten Denken muss Einspruch erhoben werden zugunsten der Komplexität, wenn Sichtweise zur Vereinfachung und Verkürzung tendieren. Sichtweisen, die sich zu sehr auf das Jetzt und auf die Gegenwart konzentrieren und fokussieren und die Geschichtlichkeit der Ereignisse aus dem Auge verlieren, muss die Geschichtlichkeit der Ereignisse vorgehalten werden.
In dieser Hinsicht ist mir mit dem Wort „degeneriert“ ein Fehler unterlaufen. Ich habe nicht aus dem System Kunst heraus mit deren Mitteln reagiert. Möglicherweise weil ich annahm, dass brachiale Mittel den „Elfenbeinturm“ Kunst beschützen könnten. Es funktioniert aber nicht. Es schwächt den Elfenbeinturm und bringt den Elfenbeinturmbewohner in Misskredit.
Er hätte also besser geschwiegen, abgewartet und sich geschichtlich darüber informiert, dass die „Älteren“ schon immer ein schlechtes Bild von der „Jugend“ hatten. In diesem Sinn wäre es ihm zu blöd, zu eindeutig und zu banal gewesen, den heutigen Studentinnen und Studenten das Wort „degeneriert“ umzuhängen.
Der „Elfenbeinturmbewohner“ muss sich nicht mehr, sondern viel weniger einmischen. Er muss zum Beispiel nicht über jedes neue „Hipster-Lokal“ in Innsbruck schreiben und aktuelle Trends wie Kopfhörer-Clubs abfeiern. Er muss sich nicht in jeden noch zu flachen Diskurs einbringen. Er hat vielmehr die Wirkungsweisen der Kunst zu berücksichtigen, er hat die Kraft der Kunst zu pflegen und er hat die Kunst zu vermitteln und zugänglich zu machen. Das ist schon Arbeit genug.

Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.

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