Hass ist (k)ein Ausweg

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Wer hasst, der ist von dieser Empfindung ganz und gar erfüllt. Wer hasst, der stellt sich auf eine ganz konkrete Seite. Wer hasst, der nimmt sich die Möglichkeit disponibel für andere Meinungen, andere Positionen und Weltanschauungen zu bleiben. Hass ist starr und unbeweglich.
Hass ist eine Empfindung der Fülle. Einer Überfülle, neben der nichts mehr Platz hat. Er geht mit einem Denken der radikalen Differenz einher. Die Anderen sind nicht Ich und müssen somit weggestoßen und verdrängt werden. Das Ich ist im Ausnahmezustand und hat keinen Platz mehr für das Du.
Denkmuster des „Neutrums“: Eine Möglichkeit des Sich-Entziehens. Die Ablehnung, dass ein bestimmtes Gefühl, eine bestimmte Weltanschauung und eine bestimmte Meinung überhand gewinnen und alles ausfüllen. Neutral hat hier nicht mit Neutralität zu tun, sondern mit einer atopischen, ständigen Bewegung. Das Subjekt verortet sich immer wieder neu, lässt sich nicht festlegen. Es präferiert eine radikale Offenheit und Selbstkritik im Umgang mit seiner eigenen Einstellung und seiner Weltanschauung.
Motive der Leere: Absolute Verfügbarkeit. Dem Wasser ähnelnd, das sich seinen Weg sucht und auch Härte nachhaltig und beständig durchdringt. Der Weg ist nicht geradlinig, sondern mäandernd. Es ist denkbar, dass sich Wirksamkeit nicht einstellt, weil der Zeitpunkt und der Ort falsch sind. Wenn nicht hier, dann eben wo anders. Unter anderen Vorzeichen. Wichtig ist es, die eigene Disponibilität nicht zu gefährden. Sonst folgen die Verengung, der enge Blick, die Verhärtung und der Hass, die nicht mehr klar sehen lassen, was sonst noch möglich wäre.
Das Neutrum und die Leere: Geschult vielleicht am Taoismus. Der Weise hängt an keiner Idee. Die Fixierung auf ganz konkrete Ideen und Vorstellungen schließt andere, noch mögliche Ideen, Denkweisen und Wege aus. Teleologie gefährdet den Blick auf das, was sich neben der Spur und neben dem eigenen Blick ereignet und noch ereignen könnte. Ein Denken der Ereignishaftigkeit, das sich dem Anlass entsprechend an die Situation anschmiegt und aus dem Vollen der eigenen intellektuellen Fähigkeiten schöpft. Präferenz des Prozesshaften gegenüber dem Fertigen und bereits voll Entwickelten. Wer mit klar definierten Positionen und Ideologien urteilt, wird der Komplexität der Situation nicht gerecht. Der Zustand der Leere: Ständige Entwicklung, ständiger Prozess, ständige Neubeurteilung.
Wer hasst, hat sich in eine Ecke drängen lassen. Wer hasst, hat seine Wandlungsfähigkeit und seine Disponibilität aufgegeben. Hass ist kein Ausweg. Das zu erkennen ist schwer, weil Hass verlockend ist. Er provoziert Reaktionen, Resonanz und Aufmerksamkeit. Es gilt Ruhe zu bewahren und dem Leisen und der Leere den Vorzug zu geben. Weil viel auf dem Spiel steht.

Titelbild: (c) http://www.artic.edu/, Landscape in the Style of Ancient Masters: after Ni Zan

Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.

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