Lee "Scratch" Perry: Ein Prophet, der gerne provoziert

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Viele großartige Erfindungen der Menschheitsgeschichte waren, so ungern wir uns das eingestehen, eigentlich einem Unfall geschuldet: Penicillin, die Fotografie mit Quecksilber, mit ziemlicher Sicherheit auch das Bier…
Ein Unfall in Kombination mit ein wenig Genie kann aber in der Folge eine Revolution auslösen. Der Unfall in diesem Fall: Eine falsch bespielte LP. Das Genie: Lee „Scratch“ Perry. Die Revolution: Der Dub.
Das ist schon einige Jahrzehnte her, aber als Genre ist dieses unwahrscheinliche musikalische Nischenprodukt immer noch Inspiration für zahllose Künstler aus allen möglichen Ecken.
Zunächst ist der Dub ja eine sehr technische Angelegenheit – Soundentfremdung mit allen möglichen analogen Mitteln, mit Überlagerungen, Echo, auch mal mit Vogelgezwitscher und Donnergrollen. Aber sobald sich die Möglichkeit bot, war auch die Bereitschaft mit digitalen Medien zu arbeiten sehr groß. Andererseits ist das Genre von einem mehr oder weniger großen künstlerischen Anspruch getragen: An die experimentelle Kraft der Musik ebenso wie an die Botschaft der Lyrics.
Und da findet sich, gerade bei Perry, immer auch ein Hauch von prophecy, geboren aus einem Bedürfnis, das er mit seinem Protegé Bob Marley teilt: Eine kranke Gesellschaft aus der Entfremdung zu retten – ja, sogar zu heilen („I Am A Psychiatrist“ heißt einer seiner bekannteren Titel). Und wie das Propheten so an sich haben, musste auch Perry laufend damit kämpfen, missverstanden zu werden – was sich seit den späten 60ern in seinem Dauermotto „I am the upsetter“ niederschlägt. Beide, der psychiatrist und der upsetter leben mitten in der Gesellschaft. Beide sehen sich mit einem im weitesten Sinne spirituellen Auftrag versehen.
Perry ist also jemand, der seine Musik – neben dem künstlerischen Anspruch – als echte Kommunikationsplattform nutzt, und das zu beinahe utopischen Zwecken. Man kann sich seinen Sound in aller Ehrlichkeit einfach nur genießen; aber das ist nur die eine Ebene. Denn Wohlfühl-Künstler ist Perry eigentlich keiner: Er ist  in der Tat so unbequem und bewegt sich so hart an der Grenze zur Destruktivität, dass er Ende der 70er sein schwer erfolgreiches Hinterhof-Studio Black Ark (dt. Schwarze Arche) auf Jamaika kurzerhand niederbrennt – so die Legende. Der Auslöser?
„Too much stress in Jamaica, all the time“, sagte er 2013 im Interview.
„Then I decided to make a sacrifice as the energy wasn’t good anymore.”
Der ästhetische Auftrag schien bedroht, also machte Perry eine Zäsur und ging nach Europa, wo er freilich schon populär genug war, um sofort Fuß fassen zu können.
Der riddim wurde auch bei europäischen und  US-Bands, die mit Reggae nur wenig am Hut hatten, zunehmend beliebter: Mit The Clash hatte Perry schon 1977 als Produzent gearbeitet, es folgten die Beastie Boys und Public Image. Damit bestätigte er einen populären Topos der Szene, nämlich dass Dub eigentlich kein Genre, sondern eine Einstellung sei, die in jeder Musikrichtung umgesetzt werden könne.
Seit seinem Umzug nach Europa (schlussendlich in die Schweiz – warum auch immer…) hat Lee Perry nicht mehr zu arbeiten aufgehört; noch 2014 machte er mit einem stark hip-hop-lastigen „Jesus Is a Soul Man“ auf sich aufmerksam und produziert mit ungebrochenem Elan weiter vor sich hin. So cool ist von den Verbliebenen aus dieser Generation sonst nur Leonard Cohen.
Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass sich viele andere Künstler – und nicht nur Musiker – gerne von Scratch inspirieren lassen. Deshalb ist dem Master of Dub im Rahmen des Heart of Noise auch ein cineastischer Nachmittag gewidmet (heute, Freitag, von 14:00-18:00 im Cinematograph). Gezeigt werden Filme von Videokünstler Dani Gal aus Tel Aviv und Regisseur Volker Schaner, der „Lee Scratch Perry’s Vision of Paradise“ gemeinsam mit der Künstlerin Maria Sargarodschi gemacht hat. Beide Filme sind gleichermaßen eine Dokumentation wie ein Kunstwerk für sich.
Hier wird allerdings nur die Spannung für den eigentlichen Act aufgebaut: Am Samstag tritt Scratch dann persönlich auf, mit seinem Wiener Support Dubblestandart, die seit den 90ern den Dub mitprägen.
Karten sind nach wie vor zu haben! Wir bekommen ja in Innsbruck (trotz häufigem Jammern) so einiges geboten; aber eine Legende wie Lee Perry haben wir nicht oft zu Besuch. Das darf man sich um Himmels Willen nicht entgehen lassen – auch auf die Gefahr hin, dass man ein wenig provoziert wird…


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