Tanzt auf den Dächern!

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Besagte Installation, über deren ästhetische Qualität sich die Geister scheiden, gehört zum ÖBB-Projekt „Lichtblick und Einblick. Kunst am Bahnhof“ und wird noch bis Ende des Jahres am Bahnhofsdach flackern.
Moment. Die ÖBB und Kreativität? Wer hat denn solche Ideen, bitte? Nun ja.
„Kunst im öffentlichen Raum, auch als Public Art bezeichnet, gilt als ein Sammelbegriff für Kunstwerke unterschiedlicher Epochen und Stile, die von jedermann zu erleben sind.  Sie begreift Öffentlichkeit als gesellschaftliche Basis für die Verhandlung politischer und sozialer Angelegenheiten. Information und Kommunikation sind als korrelative Praxen gefordert, Zusammenhänge zu generieren, sie sichtbar zu machen und kritisch zu hinterfragen“, so heißt es zumindest im ÖBB-Kunst-Leitbild
Im Grunde ist der Bahnhof ja ein genialer Ort für die Kunst. In der Londoner King’s Cross Station stehen Klaviere, die jeder bespielen kann, der mag. Im Hauptbahnhof in Zürich schwebt eine beunruhigend große, bunte und geflügelte „Nana“ von Niki de Saint Phalle. Der Neubau unseres Innsbrucker Bahnhofs musste eigens so geplant werden, dass die zwei massiven Gemälde von Max Weiler wieder an prominenter Stelle angebracht werden konnten. Der Bahnhof ist ein Ort des Durchzugs, der Weltoffenheit, des Austausches.
Dass sich die Figuren in der Lichtinstallation „Keyframes“ von Thomas Veyssiere hin und wieder ein bisschen prügeln ist natürlich eine interessante Anspielung, zumal für einen Bahnhof, in dem die Polizeipräsenz zeitenweise die Zahl der Reisenden übersteigt.
Der Bahnhof ist aber nicht nur ein fabulöser Ausstellungsraum, weil er ein Durchzugsort ist. Das sind auch Supermärkte und Discos. Er ist vor allem ein wirklich öffentlicher Raum, weil er demokratisch ist, sogar, wenn der Bahnbetrieb (halb-)privat ist. Und viel mehr als im Museum, das vielleicht von der öffentlichen Hand gefüttert wird, aber trotzdem elitär bleibt, kann Kunst im städtischen Raum so einiges bewirken. Sie prägt die Atmosphäre und Mentalität eines Ortes mit. Wo es überhaupt keine Kunst gibt, herrscht entweder eine Diktatur oder die kollektive Abstumpfung.
In Städten wie Antwerpen wird die kritische Kultur gleich direkt auf die Wände gekotzt. Fast hinter jeder Ecke wird man von Graffiti überrascht, die zum Teil wunderschön und handwerklich genial sind. Es sind international renommierte Künstler, die sprayen, und die vielen Wandbilder sind der ganze Stolz der Stadtbewohner. Zwischen Kunst und politischem Diskurs werden zwischen den schwarzen Linien allerhand radikale und weniger radikale, humorige oder abstruse Botschaften vermittelt.
Kassel ist seit über 30 Jahren Schauplatz eines äußerst radikalen Kunstprojekts , das nicht nur im öffentlichen Raum steht, sondern dort sogar vor sich hin vegetiert. Unter dem griffigen Titel „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“ pflanzte der Nachkriegskünstler Joseph Beuys für die documenta 1982 „7000 Eichen“ im Stadtgebiet von Kassel. Er starb vor der Fertigstellung seines Werks. Es ist bis heute weder vollendet noch uneingeschränkt beliebt. Aber wenn Kunst provoziert, hat sie schon einen ordentlichen Teil ihrer Aufgabe erfüllt.
Für Beuys, den großen Demokraten („Jeder Mensch ist ein Künstler“), ist Kunst das einzige Heilmittel für eine von Faschismus und Kapitalismus zerstörte Gesellschaft. Klar, dass sie sich dann auch nicht einfach so im Museum einigeln darf.
Aber diesen Anspruch stellen wir ja selten an die Kunst. Die Zeiten, in denen sie laut und widerständig war und sich überall da hineindrängte, wo man sie traditionell nicht haben wollte, sind wohl vorbei. Womöglich ist die politische Kunst auch längst salonfähig geworden und es wären neue Formate, Utopien und Provokationen gefragt.
Aber in Innsbruck, wo Kunst eine Angelegenheit für die halbinteressierte und halbgebildete High Society ist, kann ein wenig Kunst im öffentlichen Raum nicht schaden.
Die Stadt, in der Straßenmusiker nur stunden- und quadratmeterweise spielen dürfen, braucht in dieser  Hinsicht alles, was sie kriegen kann.
Mag sein, dass die tanzenden Männchen auf dem Dach des Hauptbahnhofes nicht besonders viel politisches Potential haben. Mag sein, dass sie auch gar nicht besonders geniale Kunst sind. Aber sie sind doch Teil eines echten Diskurses – „Keyframes“ für das Denken. Und als solche begrüßenswert.

Titelbild: (c) ÖBB-Presse

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