Schöne, neue Musikwelt: Nieder mit den Genregrenzen!

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Ich muss mir immer wieder mal den Vorwurf anhören, ich würde hauptsächlich Jazz hören. Meine Antwort darauf ist immer recht klar und einfach: Ja, ich mag Jazz. Aber letzten Endes ist mir Jazz auch absolut gleichgültig. Auch über die Tatsache, dass es im Moment einen von der Mainstream-Presse diagnostizierten Aufschwung dieses Genres gibt kann ich nur müde lächeln. Es interessiert mich schlicht und einfach nicht, ob bei Flying Lotus, bei Kamasi Washington oder bei Kendrick Lamar Jazz-Einflüsse zu finden sind. Es ist nämlich evident: Ohne Jazz würde es all diese eben genannte großartige Musik nicht geben. Aber darum kann es beim besten Willen nicht gehen.
Auch ein Interview mit Stefan Meister und Chris Koubek, die das von mir durchaus geschätzte Festival „Heart Of Noise“ Jahr um Jahr wieder aufs Neue auf die Beine stellen, hat mich dazu angeregt darüber nachzudenken, was mir einzelnen Genres eigentlich bedeuten und welche Rolle der Jazz in diesem Kontext spielt.
Gegen das musikalische „Cocooning“ wollen sich Meister und Koubek stellen, gegen die absolut lächerliche Haltung, dass z.B. ein Black Metal Hörer nur sehr ungern auf ein Death-Metal-Konzert geht.
Der Anspruch diese eingeschränkte und kleinkarierte Rezeptionsweise aufzulösen ist löblich. Letzten Endes wird aber bei einer solchen Denkweise und bei einem solchen Konzept nur der einen Nische eine andere Nische entgegen gestellt. Sprich: Mit einer solchen Herangehensweise werden die Hörer von Sub-Genres mit Hilfe von anderen Sub-Genres provoziert oder zumindest herausgefordert. Der Noise-Hörer bekommt auch noch tanzbare elektronische Musik geboten. 4/4 Beats treffen auf geräuschvolle Klangflächen. Das kann durchaus zu Irritationen führen.
Wie könnte wirklich „freie Musik“ klingen?
Nur wäre es zweifellos falsch sich auf das Festival „Heart Of Noise“ zu fokussieren. Auch bei diversen Jazz-Festivals, vor allem im erweiterten Free-Jazz-Bereich, hat man das Gefühl, dass auf ähnliche Weise gedacht wird. Immer mehr mischt sich auch Noise oder elektroakustische Musik in diesen Kontext ein. Ein Genre wird mit einem auf den ersten Blick nicht unbedingt nahe liegenden Genre aus der Reserve gelockt. Es wird kontrastiert und gegenüber gestellt was das Zeug hält.
Wie man es auch dreht und wendet. So kommt man nicht weiter. Vor allem ist auch eine soziologische Beschreibung der Rezipienten und Besucher dieser Festivals absolut nicht zielführend. Man könnte sich fragen, warum so mancher Free-Jazz-Hörer, der ja somit eine der freiesten und experimentellsten Musikformen der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart hört, in Wahrheit überhaupt nicht frei und tolerant ist, wenn es um andere Musikformen geht.
Und ja, man könnte sich tatsächlich auch fragen, warum sich Menschen in Sub-Genres vergraben und sich ernsthaft damit auseinandersetzen, ob das nun Death-Metal oder doch schon eher Black-Metal ist. Wenn die Gitarrensaiten nicht mehr offen klingen dürfen, sondern eher mittels Palm-Mute Technik bearbeitet werden, dann ist die Passage zwischen diesen beiden Stilen für viele ausreichend beschrieben.

David Torn: Klingt so eine mögliche musikalische Zukunft ohne Genre-Grenzen? (Bild: Anil Prasad)
David Torn: Klingt so eine mögliche musikalische Zukunft ohne Genre-Grenzen? (Bild: Anil Prasad)

Ich kann dazu nur sagen, dass es möglich ist. Es ist denkbar, sich mit solchen Differenzen zu beschäftigen. Darüber mag sich sogar ein gelehrter Diskurs führen lassen. Mich langweilt solches Begriffsklimbim aber zunehmend. Ich finde die ganzen Unterscheidungen zwischen Stilen und Genres aber hinfällig und wertlos. Ist das jetzt Post-Rock-Avant-Jazz-Metal-Funk oder doch etwas ganz anderes? Ich würde sagen: Wen kümmert es?
Ich möchte lieber diese Logik umkehren. Genres sind das Ergebnis gewisser spielerischer und ästhetischer Merkmale und Strategien. Es ist so, dass gewisse Grundsätze gegeben sein müssen, damit man diese oder jene Band oder diesen oder jenen Künstler einem ganz bestimmten Genre zurechnen kann. Genres sind somit der Versuch, die schiere Vielfalt und Pluralität der ästhetischen und musikalischen Ausdrucksmittel stillzulegen. Wer von Genres spricht der stellt auch die Behauptung auf, dass bestimmte Ausdrucksmittel und bestimmte musikalische Strategien keinen Platz mehr im jeweiligen Genre haben.
Ein Botschafter einer musikalischen Utopie: Andreas Schaerer
Ein Botschafter einer musikalischen Utopie: Andreas Schaerer

Dass wir heute über Genres und Sub-Genres reden müssen ist die Folge eines mehr oder weniger gelungenen Ein- und Ausschlussprinzips. Pop ist Pop, wenn er mit einer recht einfach Harmonik operiert und gewisse strukturelle Merkmale aufweist. Harsh-Noise ist Harsh-Noise, wenn er mit dem sogenannten „weißen Rauschen“ als ästhetisches Hauptmerkmal arbeitet und Überlagerung und Indifferenz deutlich über die Klarheit und Unterscheidbarkeit der einzelnen Spuren stellt. Jeder wird sicherlich Merkmale finden, die das von ihm präferierte Genre am besten beschreiben.
Ich würde sagen: Dass wir uns heute über Genres unterhalten ist ein Faktum. Zwar bedauerlich, aber nicht so ohne weiteres rückgängig zu machen. Genres sind außerdem zweifellos auch der Versuch der Musikindustrie Musik zu gewährleisten, die fein säuberlich bei der richtigen Zielgruppe ankommt. Ein Pop-Hörer mag nun einmal keinen Jazz und umgekehrt. Warum die Menschen also mit der unüberschaubaren Unordnung von musikalischen Ausdrucksmitteln überfordern?
Damit kommt für mich der Jazz ins Spiel. Nicht als Genre, sondern als System. In seiner eigentlichen Bedeutung, in seiner vollen Funktion. Jazz ist ein komplexes System, dem es recht leicht fällt, diverse und disparate Einflüsse zu integrieren. Er muss dabei nicht einmal auf Harmonie und Klarheit schielen, er kann sich nahe am Chaos bewegen und damit vorführen, dass sich die einzelnen Elemente aneinander reiben und nicht so recht zueinander passen wollen. Popmusik kann das aus meiner Sicht nicht. Sie strebt hin zur Verständlichkeit, zur Einfachheit und zur falsch verstandenen Versöhnung von sich widersprechenden Elementen.
In der Musik von Vijay Iyer vereint: Indischer Raga, Popmusik, Weltmusik und vieles mehr...
In der Musik von Vijay Iyer vereint: Indischer Raga, Popmusik, Weltmusik und vieles mehr…

Somit wünsche ich mir nicht, dass es in Zukunft mehr Jazz im Genre Sinn geben wird, sondern dass sich das System Jazz die immer komplexer werdenden musikalischen Möglichkeiten aneignet. Jazz ist somit kein Garant dafür, dass Einflüsse und Elementen zu einem stimmigen und klaren Genre gerinnen, sondern das Gegenteil davon. Jazz ist hier in seiner Funktion nach beunruhigend und verwirrend. Er gefällt sich in der Rolle des Infrage-Stellers.
Er bedient sich aus sämtlichen Stilen und sämtlichen vorhandenen Genres und schließt nicht aus, sondern ein. Er setzt entgegen, er probiert aus, er experimentiert. Jazz ist im allerbesten Fall der Auflöser von Genres und Sub-Genres. Mit seiner Hilfe lässt sich ein ganz neues „Genre“ denken, das selbstverständlich nicht mehr Jazz heißen darf und soll.
Mir schwebt also eine utopische und besser noch atopische Musik vor, die nirgendwo zuhause ist und sich nirgendwo verhaftet und beheimatet fühlt. Musik, die den Begriff Heimat gar nicht kennt. Eine Musik der ständigen Bewegung, die sich nicht festlegen und vereinnahmen lässt. Diese Musik wird genauso selbstverständlich und spielerisch mit der klaren und mitreißenden Melodik von Pop-Songs umgehen wie sie sich mit den rhythmischen Mitteln von indischem Raga auseinandersetzt. Die Atonalität von sogenannter „Neuer Musik“ wird daneben aber ebenso Platz finden. Gegenwartsbezug und exakte Kenntnis der Musikgeschichte werden sich nicht mehr ausschließen.
Das ist für mich der Gedanke einer wahrhaft freien Musik: Nicht Musik wie der Free-Jazz, der sich zur spielerischen Freiheit bekennt, sondern Musik, die sich in Sachen musikalischer Einflüsse die Freiheit nimmt, die sie braucht. In einer musikalisch offenen und befreiten Welt fallen der Musik sämtliche Ausdrucksmittel und ästhetischen Formen (wieder) zu. Nichts gilt mehr als unmöglich oder als uncool und gar als nicht machbar. Kategorien wie altmodisch, zeitgenössisch oder ähnliche spielen keine Rolle mehr.
Ich sage mal: Es ist zumindest denkbar und zum Teil auch tatsächlich schön hörbar. Die aktuelle Platte von David Torn hat mich auf die Idee gebracht, dass es Musik gibt, die sich aus einer solchen Vielzahl an Einflüssen speist, dass sie tatsächlich nichts mehr und schon bereits fast alles ist.
Es ist also möglich, wenn nur MusikerInen und HörerInnen ihre Scheuklappen in Sachen Musikrezeption – und -produktion ablegen. Davon bin ich überzeugt.

Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.

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