(c) Helmuth Schönauer

Im Auge des Vorstadt-Föhns

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Seit die analogen Jahrgänge der Stadt so gut wie tot und sauber geordnet in der Urnenmauer versenkt sind, lässt sich auch die Seniorenschicht besser verwalten.

Besser heißt wie überall: ohne Personal.

Es handelt sich noch um zehn, fünfzehn Jahre, wo Senioren ohne persönliche Betreuung in ihren Wohnungen herum fläzen müssen, – ihre Pensionen werden dabei automatisch und ohne Personal der Inflation angepasst –, ehe dann auch diese Jahrgänge dem Urnen-Hain überantwortet werden können.

In diesen zehn, fünfzehn Jahren freilich müssen wir die Senioren der Stadt irgendwie digital über die Runden bringen.

Die Sozialstuben und Vinzenz-Treffen mussten wegen Personalmangels bereits stillgelegt werden, die wenigen Zivildiener, die nach der generellen Kriegseuphorie am Kontinent noch zur Verfügung stehen, werden dringend für Reha-Transporte gestürzter Biker gebraucht. – Wie gut, dass wir das Netz haben!

Ein typischer Innsbrucker im ausgeisternden Alter lässt die Partnerin statistisch sauber sechs Jahre vor ihrem Tod allein auf der Welt zurück. Und die Innsbruckerin muss in der Folge schauen, wie sie ihr Sterbedatum erreicht.

Die meisten Frauen der Stadt haben eine Tabelle in der Küche hängen, auf der verzeichnet ist, wie lange sie leben müssen, bis sie die ausbezahlte Pensionssumme des verstorbenen Mannes selbst erreicht haben.

Seufzer:
– Dass wir uns die Pension durch Absitzen sinnloser Lebensjahre so mühsam erarbeiten müssen, ist eine furchtbare Überraschung!

Die Zeit bis zum Sterbedatum der Pensionsgerechtigkeit vergeht vor allem in der Vorstadt grässlich langsam und ereignislos.

Wenigstens der Föhn schaut regelmäßig vorbei und lehrt die Alten das Fürchten, indem er ihnen vorgaukelt, sie säßen im Auge eines Taifuns.

Die lange gepflegte Lebensaufgabe, nämlich mit aufgespreizten Ellenbögen beim offenen Fenster hinauszuschauen und fallweise etwas zu kläffen, musste schon längst zurückgestellt und ins Innere der Wohnung verlegt werden, seit die Ellenbögen durchgescheuert sind vom Kampf ums Überleben.

Die Stadt hat mit diesen erbarmungswürdigen Mitbewohnerinnen ein Erbarmen, und bietet die Straßenapp an.
Dabei können die Bewohnerinnen eine Kamera so am Fenster installieren, also ob sie selbst hinaussähen.

Über eine klug eingerichtete App können sie die Aufnahmen der Seniorenkamera in das ORF-Programm einspeisen, was weiterhin nicht auffällt, da dessen Grundprogramm bereits auf eine Senioren-App zurückgeht.

Mit etwas Glück ist die Kamera auf eine Stelle gezoomt, wo die Geschwindigkeitsübertretungen der KFZ in der 30er Zone mit einem bösen Smiley angezeigt werden.

Die Fittesten unter den Seniorinnen werden sich vielleicht ärgern und den Magistrat anrufen, dass die MÜG (Mobile Überwachungsgruppe) vielleicht einen Vermerk macht. Oder was Ähnliches.

Bei Föhn wird tatsächlich alles etwas mehr überschritten, als bei Windstille. Selbst die Vorstadt von Innsbruck kriegt einen Hauch Leben, wiewohl die Stadt vom Zentrum aus und vom Bürgermeister abwärts auf Langeweile aus ist.

Natürlich ist das Leben ungerecht. Die Männer schlummern schon längst in ihrem wohlverdienten Urnen-Stand, die Frauen müssen sitzen und schauen und Geschwindigkeitsübertretungen melden, bis auch ihre Zeit um ist, wenn sie dereinst die gleiche Summe auf das Konto überwiesen haben wollen, die der Mann schon vor Jahren eingestreift hat.

STICHPUNKT 23|76, geschrieben am 15.09. 2023

Geboren 1953. Ist seit Gerichtsverfahren 1987 gerichtlich anerkannter Schriftsteller, bis 2018 als Bibliothekar an der ULB Tirol. Als Konzept-Schriftsteller hält er sich an die These: Ein guter Autor kennt jeden Leser persönlich.

Etwa 50 Bücher, u.a.:
* BIP | Buch in Pension | Fünf Bände (2020-2024)
* Anmache. Abmache. Geschehnisse aus dem Öffi-Milieu. (2023)
* Austrian Beat 2. [Hg. Schneitter, Schönauer, Pointl] (2023)
* Verhunzungen und Warnungen. | Geschichten, entblätterte Geschichten, verwurstete Geschichten. (2022)
* Outlet | Shortstorys zum Überleben (2021)
* Antriebsloser Frachter vor Norwegen | Austrian Beat (2021)
* Tagebuch eines Bibliothekars | Sechs Bände (2016-2019)

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