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Das fehlende Bild

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Täglich verfolgen uns Aufnahmen von den schrecklichen Kämpfen zwischen Hamas und Israel. Jeder glaubt deshalb, sich ein Bild vom Geschehen machen zu können.

Doch in all den Berichten, egal von welcher Seite, fehlt mir bisher eine Betrachtung der Ungleichheit im Krieg der Bilder — der FEHLENDEN auf der einen, der ZU VIELEN, der allzu dramaturgisch durchorchestrierten Bilder auf der anderen Seite. Während die eine Kriegsseite alles Unglück, je grausamer desto detaillierter, verbreitet — die Tränen über den Särgen in Großaufnahme, das Blut Verletzter in Naheinstellung, das Wehgeschrei mindestens in Halbtotale –, hält sich die andere Seite zurück, ihre Opfer in emotionaler Nacktheit und körperlicher Versehrtheit der Weltöffentlichkeit zu präsentieren — obwohl das zu Propagandazwecken sicher nützlich wäre. Hier sehen wir keine Nahaufnahmen schwer Verletzter und Verstümmelter, keine Detailaufnahmen oder erkennbare Gesichter der Opfer, höchstens in der Totale: anonyme Militärs, Rettungswägen, Ansammlungen verzweifelt protestierender Angehöriger. Kaum eine Nahaufnahme vom emotionalen Ausnahmezustand des Einzelnen. Vielleicht einmal eine Montage von Kinderspielzeug in einem kaputtgeschossenen Raum, jedoch nicht die Blutflecken im Detail, nicht das Wehgeschrei der Hinterbliebenen als dramatische Filmbegleitung — obwohl es das alles auch auf dieser Seite des Krieges gegeben hat und immer noch gibt. Diese Bilder sich ansehen zu müssen, wurde bisher nur den Richtern am Internationalen Gerichtshof und einer Gruppe internationaler Journalisten zugemutet – unter Veröffentlichungsverbot.

Und so neigt das Mitleid des Betrachters instinktiv jenen zu, die wir so nah vor uns sehen, als wären es unsere Nachbarn, während die Opfer der anderen Seite seltsam kalt und abstrakt bleiben. Als wären diese unversehrt.

Es sollten uns jedenfalls die nicht gezeigten Bilder ebenso zu denken geben wie die gezeigten. Wäre ich eine Mutter in Gaza oder Israel, ich möchte nicht das Bild meiner geschändeten Tochter, meines von Bomben in Stücke gerissenen Sohnes, meine eigene Verzweiflung, vor aller unbeteiligten Welt entblößt und noch einmal entwürdigt, sehen müssen. Mein Mitleid gilt auch diesen doppelten Opfern, jenen der Bilder. Mein Hass gilt auch den doppelten Tätern, jenen skrupellosen Kriegspropagandisten, die das Unglück ihrer eigenen Leute schamlos ausbeuten.

Geboren 1954 in Lustenau. Studium der Anglistik und Germanistik in Innsbruck Innsbruck. Lebt in Sistrans. Inzwischen pensionierte Erwachsenenbildnerin. Tätig in der Flüchtlingsbetreuung. Mitglied bei der Grazer Autorinnen und Autorenversammlung Tirol, der IG Autorinnen Autoren Tirol und beim Vorarlberger AutorInnenverband. Bisher 13 Buchveröffentlichungen.

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