Große Bands aus Österreich: Schwierige Musik für schwierige Zeiten

11 Minuten Lesedauer

 Die „große Form“ und die „großen Bands“


Nicht nur in New York entdeckt man gerade wieder im großen Stil die „große Form“. Man denke dazu unter anderem an das unter der Leitung von Michael Formanek stehende „Ensemble Kolossus“ oder an das Maria Schneider Orchestra. Auch in Österreich ist diese Form gerade wieder auf eindrucksvolle Weise zu hören. Um das zu belegen genügt es, die aktuellen Veröffentlichungen der „Jazz Bigband Graz“ und von Markus Geiselhart und seinem Orchester zur Hand zu nehmen.
Der Umgang mit dieser „großen Form“ erfordert Mut, Ausdauer und Kompositionsgeschick. Wer für Bands mit 15 Mitgliedern und mehr schreibt, hat alle Möglichkeiten der Welt. Komponisten, die diese altbewährte und doch jetzt wieder neu interpretierte „große Form“ wählen, berichten regelmäßig von ermüdenden, hoch komplexen Kompositions- und Umsetzungsprozessen dieser Musik.
Das Problem und das Unbehagen mit dieser Art des Komponierens ist somit leicht benannt: Der Komponist oder die Komponistin muss sich überaus bewusst sein, in welche Richtung die Kompositionen gehen sollen –  weil eben prinzipiell alles denkbar wäre, von Minimal-Music über klassische Bigband-Sounds bis hin zu freitonalen Kompositionsexperimenten.

Im Moment eine DER "großen Bands" in New York: Michael Formanek und sein "Ensemble Kolossus" (Bild: John Rogers)
Im Moment eine DER „großen Bands“ in New York: Michael Formanek und sein „Ensemble Kolossus“ (Bild: John Rogers)

Diese Kompositionsform ist deshalb auslaugend und nicht für den mittelmäßigen Komponisten geeignet, weil sich die damit verbundene grundsätzlich Komplexität zwar leicht mit einem „Mehr-ist-Mehr-Prinzip“ ausschöpfen, aber nur schwer auf den Punkt und auf einen Nenner bringen lässt.
Die „großen Bands“ eigenen sich wie wenig sonst dafür, die eigenen Ideen und  die eigene Kompositionssprache präzise und umfassend auszuformulieren. Wer sich lediglich von den Möglichkeiten dieser Kompositionsweise verleiten lässt, wird wohl lediglich, um im Bild der Kompositionssprache zu bleiben, unverständliches Gebrabbel hervorbringen und eine Überlagerungen von Schichten, Sounds und Ideen produzieren, die keinen Sinn hat und keine Welt hinter den Kompositionen evoziert.
Denn so muss man sich den Prozess des Komponierens für eine „große Band“ vorstellen: Es sind riesengroße Brücken hin zur eigenen Gedankenwelt, zu der eigenen Sprache, zu den eigenen Ideen. Diese Brücke muss möglichst stabil und möglichst interessant konstruiert sein, um die Hörerinnen und Hörer überhaupt erst zu verführen und davon zu überzeugen, dass diese betreten werden sollten und dass man tatsächlich etwas zu sagen hat.
Es ist wohl kein Zufall, dass gerade jetzt eine Renaissance der „großen Bands“ im Gange ist. Diese Bands sind große und schwierige Musik für und in schwierige Zeiten. Sie suggerieren die Möglichkeit zur Ganzheit, zum sinnvollen Umgang mit Komplexität und Unübersichtlichkeit. Sie ordnen und ermöglichen. Sie finden rote Fäden im Chaos. Sie arrangieren Disparates und verflechten Versatzstücke, die sich bisher nicht berührt haben. Eine gute „große Band“ und ein eben solcher Komponist der die „große Form“ wählt, führt auf der ästhetischen Ebene vor, dass Sinnkonstruktionen und Einheit in der Vielheit denkbar und machbar ist.


 Die „große Form“ und die „großen Bands“ in Österreich


Einer, der diese Form der Komposition beherrscht ist der in Stuttgart geborenen, seit geraumer Zeit aber in Wien lebende Markus Geiselhart. Sein Markus Geiselhart Orchestra war in den Jahren 2013 und 2014 Stageband im Wiener Jazzclub „Porgy & Bess“. Vor kurzem erst wurde jedoch sein Debüt-Album mit seinem Orchester veröffentlicht. Bereits der Titel beschreibt die Funktion seiner „großen Band“ perfekt: „My Instrument is the Orchestra.“ Dieses „Instrument“ spielt er auf überaus virtuose und eigenständige Weise.

Beherrscht die "große Form": Markus Geiselhart (Bild: Alexander Miksch)
Beherrscht die „große Form“: Markus Geiselhart (Bild: Alexander Miksch)

 
Es gibt auf diesem Album „klassischen“ Bigband-Sounds: mächtig, treibend und ein wenig an der Überrumpelung seiner Hörerinnen und Hörer interessiert. Immer wieder mischen sich aber unerwartete Komponenten in seine Kompositionen. Vor allem der Gitarrist Martin Koller sorgt für Dissonanzen, Störungen und Irritationen. Sein Spiel erinnert an mehr als nur einer Stelle an Musiker wie den großartigen David Fiuczynski. Die ruhigen Passagen dieser Aufnahmen wiederum führen weit von den impliziten und expliziten Konventionen einer solchen „großen Band“ fort. Es entstehen Flächen, der Charakter ist kontemplativ, meditativ.
Überhaupt findet Markus Geiselhart eine gute Balance zwischen „Eigenem“ und „Fremdem“, zwischen ureigener Musiksprache und dem Umgang mit Vorbildern und Einflüssen. Seine Vorlieben für Reisen werden ebenso klanglich konzis und treffend in Szene gesetzt wie zum Beispiel auch Don Ellis Tribut gezollt wird.
Mit Markus Geiselhart ist ein wirklicher Meister dieser komplexen Form des Komponierens am Werk. Seine Kompositionen haben einen hohen Wiedererkennungswert, schultern die Komplexität mit Leichtigkeit, Spielfreude und Witz. Ein überaus gelungenes Album-Debüt, das bereits ein paar Fährten legt, in welche Richtung sich die Kompositionen von Markus Geiselhart in Zukunft noch entwickeln könnten.
Aber auch eine „große Band“ aus Graz sorgt derzeit, absolut zu Recht, derzeit für Furore: Die „Jazz Bigband Graz“. Die Kompositionen stammen allesamt aus der Feder von Horst-Michael-Schaffer. Inhaltlich und an der Umsetzung hatte auch Heinrich von Kalnein ein paar Worte mitzureden. Entstanden ist dabei jedenfalls ein Album einer „großen Band“, das sich mit der europäischen Konkurrenz in diesem Bereich locker messen kann und einen sehr interessanten Weg im Umgang mit vielfältigsten Einflüssen und Kontexten findet.
Im Booklet der CD bedankt sich Horst-Michael Schaffer bei so unterschiedlichen Musikern wie Tigran Hamasyan, Gustav Mahler, Paul Simon oder Philipp Glass. Tatsächlich sind diese Einflüsse alle auf dieser Aufnahme zu hören, ohne dass sie sich widersprechen oder ästhetisch in die Quere kommen würden. Die „große Form“ dient hier als ein riesengroßer Möglichkeitsraum um rote Fäden zu finden, die bisher übersehen wurden. Möglicherweise wurden diese rote Fäden hier aber sogar erst gesponnen und neu ersonnen.
Die Köpfe hinter DER JBBG: Horst-Michael Schafffer (links) und Heinrich von Kalnein (Bild: Julia Wesely)
Die Köpfe hinter DER JBBG: Horst-Michael Schafffer (links) und Heinrich von Kalnein (Bild: Julia Wesely)

Das musikalische Spektrum ist insgesamt überwältigend. Auf die orchestrale, klassisch anmutende Komposition „Overture“ folgt das beschwingte, poppige und eingängige „Shall I compare thee to a summer´s day.“ Im Verlauf des Albums folgen elektronische Spielereien, spoken Word-Passagen und eine kräftige Brise Pink Floyd.
Manchmal könnte man sich dieses Album, in einer besseren Welt freilich, im sogenannten Hit-Radio vorstellen. Fröhlich vor sich hinpfeifend ließe es sich hervorragend bei einer lange Autofahrt mit ganz viel Sonnenschein genießen. Just wenn das passiert kratzt es die Kurve und wird seltsam und schräg, behält dabei aber immer auch die versöhnliche, einladende Komponente.
Dieses Album möchte nicht sperrig oder gewollt avantgardistisch sein. Es will bunt, lebendig, vielfältig und spielerisch sein. Nach einer gewissen Zeit hört man außerdem auf zu zählen, wie oft hier falsche Fährten gelegt werden und wie oft mit den Erwartungshaltungen der Hörerinnen und Hörer auf überaus geschickte und innovative Art und Weise gespielt wird.
Ein herausragendes Album somit, das zeigt, wie eine „große Band“ im Heute klingen könnte. Welche Möglichkeiten dieser offen stehen. Und wie zeitgemäß und gegenwärtig eine solche Band klingen kann. Aus vielfältigsten Einflüssen wird hier eine hochinteressante Musiksprache entwickelt, die eine perfekte Antwort auf die aktuelle Unübersichtlichkeit in der Musikszene und der Fragmentierung der Einflüsse und Stile vorlegt. Das Album macht Vorschläge, wie ein großes Ganzes klingen könnte, bei dem Gustav Mahler mit Paul Simon ein Tänzchen wagt und dazu Jazz im Hintergrund läuft.


 Fazit


Bei beiden CDs fällt auf, dass es bei den Kompositionen nicht immer bierernst zugeht. Witz, Humor und manchmal auch Ironie sind omnipräsent. Im Gegensatz zu aktuellen Beispielen wie dem bereits genannten „Ensemble Kolossus“ geht es diesen beiden Aufnahmen nicht um das bilderstürmerische Neudenken der „großen Form“. Eher wird lässig mit alten Form gespielt, neu geformt, dezent irritiert und neu formuliert. Zu dieser Musik darf auch durchaus getanzt und mitgesungen werden. Möglicherweise ist das die größte Kunst: Das Komplexe leicht und zugänglich erscheinen zu lassen und dabei so zu wirken, als habe man den allergrößten Spaß bei der Umsetzung von herausfordernden Kompositionen.
Kurzum: Österreich beherrscht die „große Form“ und findet zum Teil andere Antworten auf die Frage, wie eine solche „große Band“ im Hier und Jetzt klingen sollte. Definitiv hörenswert. Das Gute liegt manchmal eben doch näher, als man denkt.


 Zum Reinhören





 Titelbild: Alexander Miksch

Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.

1 Comment

  1. Lieber Markus,
    Nachdem wir lustigerweise medial am selben Tag dasselbe Thema (mit denselben CDs) aufgegriffen haben – Du hier, ich in den Ö1-Spielräumen am 10. März 2016 – musste ich Deinen Artikel natürlich lesen. Finde es schön, dass Du Dich hier auf Deine ganz persönliche Weise dem Thema näherst!
    Ein paar kritische Anmerkungen:
    Die neue Hochkonjunktur der Bigbands, Jazzorchester oder „Large Ensembles“, wie sie inzwischen auch immer öfter heißen, ist m. E. kein neues Phänomen, sondern eines der letzten – sagen wir – zehn, 15 Jahre. Nüchterne Menschen sagen, dieses hat auch damit zu tun, dass es heute einfach mehr gut ausgebildete MusikerInnen gibt als jemals zuvor, die arbeiten wollen …
    Ich finde zudem den Begriff der „großen Form“ problematisch. Das längste Stück auf Markus Geiselharts CD dauert acht Minuten. Große Form, darunter verstehe ich längere, mitunter mehrsätzige Werke, die in der formalen Gestaltung Herausforderungen bieten. Natürlich, ein Bigband-Komponist hat eine ungleich größere Fülle an klanglichen Ausdrucksmitteln zur Verfügung, aber er folgt genau so seinen inneren Vorstellungen, Prägungen bzw. bewegt sich in Traditionen, Kontexten, wie dies ein Klaviertrio tut. Auch dieses muss sich entscheiden, welchen Weg es auf einem Parcours von zahllosen Möglichkeiten einschlägt. Deshalb ist für mich Deine These, die Orchester-Komposition als Sinnbild dessen zu bezeichnen, „dass Sinnkonstruktionen und Einheit in der Vielheit denkbar und machbar ist“, eine sehr romantische Projektion und Überinterpretation.
    Das nur ein paar Gedanken dazu von meiner Seite. Finde es gut, dass Du Dich hier um Themen kümmerst, die auch ich wichtig finde!
    Herzliche Grüße!
    Andreas Felber

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