Plattenzeit #34: Solange – A Seat at the Table (Teil 2)

9 Minuten Lesedauer

Als weißer Mann über Musik von schwarzen Frauen schreiben


Derzeit wird viel über das aktuelle Album von Solange gesprochen und geschrieben. Vor allem von schwarzen Frauen. Bereits auf dem Album ihrer Schwester Beyoncé („Lemonade“) wurde deutlich, dass die schwarze Frau in den USA die prekärste und bedrohteste Identität überhaupt ist. Sie ist schwarz und wird damit oftmals von männlichen Intellektuellen und Schreibenden als exotische, möglicherweise attraktive und erotisch anziehende Nicht-Weiße entworfen. Selbst kommt sie höchst selten zu Wort. Es wird viel über sie geschrieben und gesprochen, sie selbst hat zum Teil kaum eine Stimme.
Die Lebensrealität in den USA ist eine andere als in Europa. Ein Album wie „A Seat at the Table“ muss im Umfeld der „Black Live Matters“ Bewegung gesehen werden. Diese wurde vor allem aufgrund der anhaltenden Polizeigewalt gegenüber Schwarzen von afroamerikanischen Gemeinschaften ins Leben gerufen. Der Vorwurf dahinter lautet, dass die Polizei leichtfertiger schießt und den Tod des Gegenüber in Kauf nimmt, wenn dieses schwarz ist. Die Wahl von Donald Trump ist in diesem Zusammenhang ein herber Rückschlag. Er ist Inbegriff des arroganten, weißen Mannes. Es wird vielerorts davon gesprochen, dass sich der Rassismus gegenüber Schwarzen seit seiner Wahl verstärkt hat. Dämme sind gebrochen und es ist denkbar, dass noch mehr Dämme brechen.
„A Seat at the Table“ ist somit nicht vorrangig ein Album, das aufgrund seiner Musikalität und seiner grandiosen Songs zu jedem spricht und emotional berührt. In ihrem Song „F.U.B.U. thematisiert Solange explizit, an wen das Album gerichtet ist. „All my niggas in the whole wide world“. Und weiter: „This shit is for us.“ Auch Ausschlüsse werden vorgenommen: „This shit is from us, some shit you can´t touch“. Man mag sich als weißer Mann ertappt fühlen. Oder zumindest dazu angehalten, nicht leichtfertig über diese Musik zu schreiben und universelle Kategorien in dieser zu suchen, die an alle gerichtet und adressiert sind.
Solange selbst spricht in keinem Interview davon, dass sie ein Album machen wollte, das jeder versteht und des jeden berührt. Vorrangig ist es eine Platte, mit Hilfe derer sie sich selbst zum Sprechen ermächtigt. Sie findet eine präzise und doch poetische Sprache, um ihre Situation, ihre Gefühle und die derzeitigen Situation in den USA auszudrücken und zu beschreiben. Das dauerte Jahre und war von einem emotionalen Zusammenbruch begleitet. Es war offenbar ein schmerzhafter und intensiver Prozess, an dessen Ende wir nunmehr „A Seat At The  Table“ vorliegen haben.
Im Verlauf des Albums lässt Solange mehr oder weniger prominente schwarze Personen zu Wort kommen. Unter anderem ihre Eltern. Ihre Mutter spricht von ihrem Stolz schwarz zu sein. Und betont explizit, dass es nicht automatisch bedeutet gegen die Weißen zu sein, wenn man sich vehement auf die Seite der Schwarzen stellt. Folgt man der Narration dieser kurzer „Interludes“ zwischen den Songs dann wird deutlich, dass die amerikanische Geschichtsschreibung als „weiß“ bezeichnet wird. Dass Schwarze nach wie vor massiv benachteiligt sind. Während Kinder von weißen, reichen Männern und Frauen die Möglichkeit hätten bei Drogenproblemen in teure Entzugs-Kliniken zu gehen müssten sich Schwarze selbst therapieren.
Diese Feststellung ist zentral für das Album. Wenn die Institutionen und die Geschichtsschreibung nicht auf der Seite der Schwarzen stehen und deren Stimmen und Einfluss nicht ermächtigt und forciert, sondern marginalisiert und unterdrückt werden, dann ist die schwarze Frau Solange auf sich selbst zurückgeworfen. Sie muss sich selbst heilen. Sie muss sich selbst helfen. Sie muss sich in mühevollen und kräftezehrenden Stunden darum kümmern, wie sie selbst zur Sprache kommt und wie sie endlich gehört wird.
Besonders interessant ist dabei das Verhältnis von persönlicher Vereinzelung und Verzweiflung und dem gemeinsamen Engagement von schwarzen Bewegungen. Solange konstruiert strategische Identitäten und nimmt einen pragmatischen Essentialismus in Kauf. Sie spricht zu allen schwarzen Menschen auf der ganzen Welt, verbrüdert und verschwestert sich mit ihnen. Zugleich weiß sie aber, dass es Makro- und Mikrostrukturen gibt. Die Makrostrukturen der Unterdrückung und Marginalisierung von schwarzen Frauen mögen sich weltweit ähneln. Dennoch kämpft jede auch einen persönlichen und alltäglichen Kampf. Sie blickt zugleich auf Allgemeines und Konkretes. Vor allem auch auf zutiefst persönliche Schicksale und Empfindungen, die sie im Gesamten und Allgemeinen verortet und rückbindet.


Universalität vs. Konkretion


Es ist sehr plausibel zu behaupten, dass Solange weiße Männer gar nicht von der Rezeption dieser Platte ausschließen will. Sie richtet sich nur nicht an sie. Diese Haltung nimmt sie aber nicht aus einer wie auch immer gearteten schwarzen Überheblichkeit heraus ein. Sie möchte den weißen Rassismus nicht umkehren und aus schwarzer Sicht die Geschichte und die Geschichten von Weißen marginalisieren oder ausschließen. Diese Haltung ist dem Streben nach Konkretion und Präzision geschuldet. Nicht nur auf der sprachlichen und musikalischen Ebene will sie möglichst konzis sein, sondern auch auf der politischen und gesellschaftlichen Ebene.
Sie inszeniert sich als leidende schwarze Frau, die zur Selbstbestimmung und zu ihrer Stimme findet. Sie möchte schwarzen Frauen dazu verhelfen, diesen Schritt ebenfalls zu wagen und diesen zwar schwierigen, aber notwendigen Prozess zu durchlaufen. Diese klare Adressierung und die emotionale Öffnung von Solange erklärt auch die euphorischen Kritiken von schwarzen Frauen. Sie fühlen sich direkt angesprochen und finden sich in der Person Solange als Stellvertreterin der eigenen Probleme und Leiden in der amerikanischen Gesellschaft wieder.
Solange zeigt möglich Wege und Auswege auf. Die Reaktion darauf ist Dankbarkeit. Sie ist gerade auf dem besten Weg dazu zur weiblichen Galionsfigur einer schwarzen, weiblichen Selbstermächtigung- und Selbstsorge-Bewegung zu werden. Dazu musste sie nicht Probleme finden, die uns alle betreffen, egal ob weiß oder schwarz, ob Mann oder Frau. Dazu musste sich möglichst konkret beschreiben, wie sich die schwarze Frau in den USA der Gegenwart fühlt.
Das ist die Faszination dieses Albums. Es ist in keinem Moment schwammig oder unklar in der eigenen Ausrichtung und Intention. Genau das darf einen weißen Mann in Europa begeistern. Er darf berührt und angerührt dem Selbstermächtigungs-Prozess von Solange beiwohnen und euphorisch über das Endergebnis „A Seat At The Table“ sein. Er sollte es aber nicht seinem ganz handfesten Kontext entfremden. Er sollte sich darüber im Klaren sein, dass ihm einiges von der Gefühlswelt von Solange verschlossen bleiben wird, einiges hingegen direkt und ungeschönt zu ihm spricht.
Womöglich ist auch der Begriff „Meisterwerk“ nur eine zutreffende Beschreibung der musikalischen Qualität dieses Albums. „A Seat at the Table“ ist aber eigentlich etwas anderes. Es ist das bestmögliche Album zur ganz konkreten gegenwärtigen Situation von schwarzen Frauen in den USA. Es ist ein Album, das sehr genau und konzis auf Umstände, Machtstrukturen und Marginalisierungs-Diskurse reagiert. Darin erreicht Solange eine bislang ungehörte Meisterschaft.


Kritiken zu „A Seat at the Table“




 Titelbild: (c) Kevork Djansezian—Reuters

Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.

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